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# taz.de -- Abenteuer Denken
> Ijoma Mangolds Tagebuch gegen unsere wirre Welt
Von Tom Wohlfarth
Einer der Hauptprotagonisten der populärpolitologischen Debatten der
letzten Jahre dürfte etwas gewesen sein, das es in traditioneller Form
immer weniger gibt: der Stammtisch. Aus den verlassenen Eckkneipen und
verwaisten Vereinsheimen abgewandert in die sozialen Medien, wurde dort
ungefiltert für ein Millionenpublikum verstärkt, was einst nur für einen
kleinen Tisch gedacht war. Der Journalist Ijoma Mangold hat diese Bewegung
umgedreht und daraus – nur ein bisschen paradoxerweise – ein Buch gemacht.
In „Der innere Stammtisch“ versucht er, in Form eines „politischen
Tagebuchs“ seine ersten emotionalen Reaktionen auf politische Ereignisse
festzuhalten, aber nicht um sie in dieser Form die Welt am Rad drehen zu
lassen, sondern um diese affektiven Reflexe in einem inneren Selbstgespräch
zu reflektieren und auseinanderzunehmen.
Das beginnt im September 2019 mit dem schon etwas kleinlauten Spott über
Greta Thunberg und endet im April 2020 mit der Einsicht, die Gefahr von
Covid-19 wohl doch etwas vorschnell abgetan zu haben. Nicht fehlen darf
natürlich der Mann, der Mangolds Lebensprinzip Trotz den vorübergehenden
Todesstoß gab: Donald Trump. Gehörte es einmal zu Mangolds größten Freuden,
Abendgesellschaften mit unwohl temperierten Anti-Mainstream-Manövern in
Verwirrung zu stürzen, geriet er durch den Wahlsieg Trumps 2016 selbst in
die für unsere Zeit so bezeichnende Stimmung, auf nichts weniger Bock zu
haben „als auf jemanden, der die Lage anders sah als ich selbst“.
Doch selbst in dieser misslichen Lage findet er seinen Meister in einem
noch größeren Trotzkopf, dem israelisch-amerikanischen Kollegen Tuvia
Tenenbom, der ihm damals zu einer fundamentalen Einsicht verhalf: „War das
nicht tatsächlich das Beste, was einem Intellektuellen widerfahren konnte:
die Welt nicht mehr zu verstehen? Weil man nur dann genötigt ist, noch
einmal ganz von vorne zu denken.“
Auf dieses intellektuelle Abenteuer begibt Mangold sich mit erfrischender
Konsequenz und analytischer Schärfe. Ob in der Kritik des Fremdschämens
(das letztlich nur die gute alte Herablassung moralisch zu veredeln
versuche), dem Lob der Heuchelei (als einer zivilisierenden Disziplin der
Affekte) oder der genüsslichen Selbstgeißelung (etwa als konservativer
Angeklagter im Wachtraum eines postrevolutionären linken Schauprozesses),
stets wird man aufs Anregendste und Unterhaltsamste gedanklich
herausgefordert durch diese heiteren Exerzitien eines konservativen
Liberalen, der seiner linksliberalen Blase liebevoll und selbstironisch den
Zerrspiegel vorhält und sie zur Ambiguitätstoleranz ermuntert.
Mangold erweist dadurch im Handumdrehen das Tagebuch, diesen ganz
traditionellen inneren Stammtisch, als das eindeutig bessere, zumindest an
bleibenden Einsichten weitaus reichere Twitter.
17 Oct 2020
## AUTOREN
Tom Wohlfarth
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