# taz.de -- berliner szenen: Mitesser auf der Radmeile | |
Regelrecht unheimlich ist die Stille, als ich am Sonntagmittag mit dem | |
Fahrrad in die autofreie „Flaniermeile Friedrichstraße“ einbiege, wie der | |
Tarnname der neuen Fahrradstraße lautet. Alles wirkt wie ausgestorben. Es | |
fühlt sich an wie bei einem dieser Marathon-Wochenenden. Nur ohne | |
Läufer*innen. Ein paar Cafés haben Tische und Stühle aufgestellt, wo für | |
gewöhnlich Autos parken. Die Stadt hat ein paar Bänke und kleine Bäume in | |
Kübeln installiert. Pilotversuch. Ringsumher ist es so leise, dass man die | |
Stimmen der wenigen Passanten hören kann. Auf der Mitte der Strecke halte | |
ich an, steige vom Fahrrad und setze mich auf eine der Bänke. Die | |
Spätsommersonne scheint auf die gegenüberliegende Straßenseite. Die Szene | |
wirkt etwas überbelichtet. | |
Es dauert nicht lange, bis sich dort zwei gut gekleidete junge Frauen | |
niederlassen. Inzwischen habe ich meine Pausenverpflegung ausgepackt. Ich | |
sehe wie eine der beiden Frauen ihre Tasche öffnet und ein paar lose | |
Papiertaschentücher herausholt. Ruhig und konzentriert widmet sie sich dem | |
Gesicht ihrer Freundin. Was genau die beiden tun, kann ich auf die | |
Entfernung nicht wirklich erkennen. Drücken sie sich etwa Mitesser aus? | |
Mitten auf der Friedrichstraße? Als sie mich bemerken, lachen die beiden. | |
Es ist ein entspanntes Lachen. Bald packen sie zusammen und sind | |
verschwunden. Auch ich mache mich wieder auf den Weg zum Gropius Bau, wo | |
ein Teil der Berlin-Biennale stattfindet. | |
Ob ich mein Brot weitergegessen habe, will die Freundin einer Freundin | |
wissen, als wir bei einer Eröffnung zusammenstehen und ich von der | |
seltsamen Begebenheit auf Friedrichstraße erzähle. Ihre Frage impliziert, | |
dass die Situation irgendwie eklig gewesen sein müsse. Ich bin mir nicht | |
sicher und finde es nun noch seltsamer. Kito Nedo | |
22 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Kito Nedo | |
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