| # taz.de -- Narben fürs Leben: „Glotzen kostet fünf Euro“ | |
| > Tobias Haase wurde als Kind schwer verbrannt. Sein Gesicht trägt viele | |
| > Narben. 20 Jahre später mag er sich. Die Geschichte eines Kampfes. | |
| Am 21. Dezember 1999 war Tobias Haase ein Schaf. Es war der Tag vor dem | |
| Krippenspiel, im Kindergarten wurde geprobt. Die Mutter hatte dem | |
| Dreijährigen ein Kostüm gebastelt, sein kleines T-Shirt war mit | |
| Wattebällchen beklebt. Weich und weiß. Die Erzieherinnen verteilten Kerzen | |
| an die Kinder, 20 Zentimeter hoch, angezündet. Der kleine Tobias stand | |
| neben seinem Freund Justin, als beide anfingen zu brennen. | |
| Tobias' Mutter packte zur selben Zeit in ihrer Wohnung einen Koffer, am | |
| nächsten Morgen sollte es zu den Großeltern gehen, Weihnachten, gemeinsame | |
| Familienzeit. Wenn Birgit Haase heute von diesem Tag vor 20 Jahren erzählt, | |
| schließt sie die Augen, als würde im Inneren ein Film ablaufen: Beim Packen | |
| hörte sie plötzlich ein Rattern, einen Helikopter. „Wieder eine Oma mit | |
| Herzinfarkt“, habe sie gedacht und weiter Pullover und Hosen in den Koffer | |
| gestapelt. Dann klingelte das Telefon. Die Kita ihresSohnes war dran, eine | |
| Stimme sagte: „Es ist etwas passiert, du musst schnell kommen.“ | |
| Als sie im Kindergarten ankam, fiel ihr direkt auf, wie still es war. Keine | |
| Kinder da. Eine Erzieherin kam auf sie zu, blass, starre Augen. In Birgit | |
| Haase stieg Übelkeit auf. Sie hörte, wie durch Watte, die Erzieherin sagen: | |
| Tobias. Unfall. Feuer. Krankenhaus. | |
| Tobias Haase und seine Mutter Birgit leben damals wie heute gemeinsam im | |
| Johannesstift in Berlin Spandau. Ein großer Komplex der evangelischen | |
| Kirche, über 50 Wohnhäuser, ungefähr 2500 Bewohner, ein Altersheim, mehrere | |
| Ausbildungsbetriebe, eine Schwimmhalle, ein Kindergarten. Der 24-jährige | |
| Tobias wohnt noch bei seiner Mutter, sie verstehen sich gut, wirken wie ein | |
| eingeschworenes Team. | |
| ## Ein Unfall, 16 Operationen | |
| Birgit Haase sitzt neben ihrem Sohn, schaut ihn an. „Das war der Horror | |
| damals.“ Tobias nickt. Er kennt die Geschichte, seine Geschichte, nur aus | |
| Erzählungen seiner Mutter. Wenn er selbst die Augen schließt, kann er nur | |
| Fetzen sehen. Wie in einem Film, bei dem nur auf jedes fünfte Bild genügend | |
| Licht fällt. Woran er sich erinnert: An den schmerzhaften Weg, der mit | |
| diesem Tag für ihn begann. | |
| Auf dem Papier klingen die Folgen des Unfalls so: 13 Prozent von Tobias | |
| Körper sind mit Verbrennungen dritten Grades übersät. Bei Kindern gilt: | |
| Schon eine Verbrennung von der Größe der Handfläche kann lebensgefährlich | |
| sein. Die Ärzte versetzten Tobias in ein künstliches Koma. Es folgten | |
| insgesamt 16 Operationen. Geblieben sind auffällige Narben in der unteren | |
| Hälfte des Gesichts, an beiden Armen und Händen. Nach zwei Monaten wurde er | |
| aus dem Krankenhaus entlassen. | |
| Drei Mal täglich eincremen und Kompressionsmasken für die Wundheilung – das | |
| war der Rat der Ärzte. Aber wie erklärt man einem Kind, dass es drei Mal | |
| täglich eine Stunde lang still sitzen muss, damit die Mutter die Narben | |
| pflegen kann? „Disneyfilme“, sagt die Mutter und stupst ihren Sohn mit der | |
| Schulter an. „Wir haben so viele Disneyfilme in dieser Zeit geschaut, dass | |
| wir beide am Ende mitsprechen konnten, stimmt's?“ Tobias schaute, hielt | |
| still und die Mutter cremte. Tag für Tag, zwei Jahre lang. „Am liebsten | |
| mochte ich Aristocats“, sagt Tobias. So leicht wie das heute klingt, war es | |
| nicht. | |
| Bei den Kompressionsmasken konnte Disney nicht helfen. Zwei enganliegende | |
| Strümpfe für die Arme, eine Maske fürs Gesicht – nur der Mund, die Nase und | |
| die Augen waren frei. Zwei Jahre lang musste Tobias sie jeden Tag tragen. | |
| Nur beim Essen, Duschen und Eincremen durfte er sie ausziehen. | |
| Rückblickend, so klingt Tobias, war nicht das Überleben der größte Kampf, | |
| es war das Leben mit der Verbrennung. | |
| ## Anderssein war hässlich und tat weh | |
| Zurück im Kindergarten war es schwierig. Die anderen Kinder reagierten | |
| ängstlich. Was ist mit dir passiert? Ist das ansteckend? Nur ein Kind | |
| stellte keine Fragen: Justin. Der Junge, der neben Tobias im Krippenspiel | |
| stand. Der Junge, der ebenfalls in Flammen aufging. Auch er hatte überlebt, | |
| auch er musste cremen, die Maske anziehen und sich verletzende Fragen | |
| gefallen lassen. „Wenigstens war niemand wirklich gemein, die anderen | |
| Kinder waren nur unsicher“, sagt Tobias heute. | |
| Manchmal denkt er, es sei sogar gut gewesen, dass er damals so jung war. Er | |
| kennt sich nicht ohne Narben, ohne rosaschimmernde Linien um den Mund, an | |
| Kinn und Hals. Er kennt sich nur anders. Anders als die Anderen. | |
| Anders zu sein, war nicht gut, aber es war auch nicht schlecht. Zumindest | |
| noch nicht. In der Grundschule änderte sich das. Tobias hatte keine | |
| Probleme, bis ihm jemand welche machte: ein Junge, der erst in der dritten | |
| Klasse zu ihnen wechselte. Er schrie Tobias „Du Toastbrot! Du Bratapfel!“ | |
| ins Gesicht und kickte ihm einen Fußball in den Bauch. Auf einmal durfte | |
| Tobias nicht mehr mitspielen, immer mehr Finger zeigten auf ihn, | |
| Klassenkameraden lachten nicht mehr mit ihm, sondern über ihn. „Ich will da | |
| nicht mehr hin, Mama“, sagte Tobias irgendwann. Es folgten Gespräche mit | |
| dem Rektor, der Lehrkraft. Keine Besserung. | |
| „Mama, wenn ich aus dem Fenster springe, dann bin ich tot, oder? Und wenn | |
| ich tot bin, bin ich nicht mehr verbrannt, stimmt's?“ Als Tobias seiner | |
| Mutter diese Frage stellte, war er neun Jahre alt. Sein Anderssein war | |
| nicht mehr okay. Anderssein war hässlich, Anderssein tat weh. Tobias | |
| wollte, dass das aufhört. Seine Mutter stand ihm ratlos gegenüber – ein | |
| Schmerz, den sie bis heute nicht in Worte fassen kann. | |
| ## Gemeinsam Anderssein macht gleich | |
| Auf einmal sah Tobias im Spiegel nicht mehr nur sein Gesicht. Er sah das, | |
| was die anderen ihm sagten. Fiese Narben, rot schimmernd, krumpelig, | |
| auffällig. Auf der Straße spürte er jetzt die Blicke von Passanten, in der | |
| U-Bahn, im Bus. Blicke, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Sein | |
| Selbstbewusstsein kam ihm vor wie ausgeliehen, er konnte es nicht länger | |
| aufrechterhalten. Sein Freund Justin wechselte zu dieser Zeit die Schule. | |
| Auch er konnte nicht mehr. Tobias blieb, doch der Junge hörte nicht auf. | |
| Trost fand Tobias bei den Treffen von „Paulinchen“, einem Verein für | |
| brandverletzte und verbrühte Kinder. Auf den Jugendfreizeiten und Workshops | |
| merkte er: Ich bin nicht allein. Gemeinsam Anderssein macht gleich. | |
| An einem Sommertag in der sechsten Klasse geschah dann etwas, das Tobias | |
| heute als Wendepunkt bezeichnet: Er wehrte sich, zum ersten Mal. Als ihm | |
| jemand eine fiese Beleidigung ins Gesicht schleuderte, schlug er zu. „Das | |
| musste sein“, sagt er heute und nickt wie zur eigenen Bestätigung. Was ihm | |
| half, war weniger der Faustschlag, den er dem anderen Jungen versetzt | |
| hatte, mehr das Gefühl dahinter: Ich bin auch was wert. Du hast nicht | |
| recht. Ich bin nicht hässlich, ich bin nicht falsch. Es wirkt, als sei | |
| Tobias an diesem Tag über sich hinausgewachsen. Es war der Anfang eines | |
| Prozesses, an dessen Ende alles nicht mehr so wehtat. | |
| Bevor Tobias das Wort „Norm“ kannte, wusste er, dass er nicht dazugehört. | |
| Und ein paar Jahre später, dass eine Norm nicht zwangsläufig die Wahrheit | |
| ist. Das, was andere erst in der Pubertät lernen, lernte Tobias viel | |
| früher: sich selbst zu akzeptieren und zu lieben. Was klingt wie ein | |
| Kalenderspruch, ist für ihn eine hart erkämpfte Wahrheit. | |
| ## Das beste Kostüm | |
| Gehadert hat Tobias aber in der Liebe. So wie es jeder Teenager tut. Am | |
| Anfang stellte er sich immer wieder die Frage: Was ist der Grund für meine | |
| Unsicherheit? Sind es die Narben oder bin einfach ich es? Seine erste | |
| Freundin war auch „verbrannt“, wie er es nennt. Aber die Fernbeziehung | |
| hielt nicht lange. Seit fünf Jahren ist Tobias nun in Jacky verliebt, seine | |
| Narben haben nie eine Rolle gespielt. Am Anfang hatte sie Fragen, die | |
| meisten amüsierten Tobias. Jacky studiert Biotechnologie und wenn sie mit | |
| Tobias über seine OPs sprach, spürte er ihre fachliche Faszination: Wie hat | |
| die Transplantation funktioniert? Welche Methode haben sie angewandt? „Das | |
| war witzig“, sagt Tobias, „diese Art von Fragen kannte ich noch nicht.“ | |
| Tobias’ Fachgebiet sind Pflanzen. Er ist Landschaftsgärtner, hat seine | |
| Ausbildung im Johannesstift gemacht und arbeitet heute noch dort. Arbeit | |
| und Leben im Umkreis von wenigen Metern. Man kennt sich im Stift, jeder | |
| kennt Tobias, jeder kennt die Geschichte seines Unfalls. | |
| Nebenbei schauspielert Tobias gern. Er wird oft als Statist für Filme | |
| gebucht, seine Rollen heißen: „Verwundeter Soldat“ oder „Opfer eines | |
| Anschlags“. Am liebsten mag er seinen Job als Erschrecker im Filmpark | |
| Babelsberg. Immer zu Halloween bekommt er dort einen Auftrag als | |
| „Scareactor“. Ob ihn das nicht auch verletzt, nervt, empört? „Nein, | |
| überhaupt nicht. Ich brauche viel weniger Schminke als die anderen und habe | |
| trotzdem das beste Kostüm“, sagt er und grinst. „Wirklich, es nervt nicht�… | |
| schiebt er nach. | |
| Es gibt ein Bild von ihm, da sitzt er neben Johannes B. Kerner. Im Anzug, | |
| mit 17, im Fernsehen. Mutig fand er sich da. Er sprach über seinen Unfall, | |
| seine Worte und sein Gesicht eine Mahnung. Besonders um Weihnachten und | |
| Silvester bekommt er immer viele Anfragen von den Medien. Immer dann, wenn | |
| Kinder mit ihren Eltern Raketen in die Luft jagen, am Weihnachtsbaum die | |
| Lichter brennen oder manche Erwachsene dem Nachwuchs | |
| 20-Zentimeter-Stabkerzen in die Hand drücken. | |
| ## Aufgeben oder Frieden finden | |
| Er sagt in jedem Interview: Vorsicht mit Feuer, Kinder nie alleine lassen. | |
| Dass die Anfragen immer um die Weihnachtszeit kommen, stört ihn nicht: „Ist | |
| ja logisch, bin ja auch an Weihnachten verbrannt.“ Es wirkt, als sei in | |
| Tobias Haases Leben kein Platz für Zynismus. | |
| Vergangenes Weihnachten, am Jahrestag ihres Unfalls, luden Tobias und | |
| Justin zu einer Party ein, das Motto: „20 Jahre verbrannt“. Tobias und | |
| Justin sind bis heute enge Freunde, verbunden durch diesen einen Tag. Viele | |
| andere enge Freunde waren da, es gab Bier, Pong, Schnaps und eine Rede. | |
| Eine echte Party eben. „Wir haben so viel geschafft seit diesem Tag“, sagt | |
| Tobias, „das wollten wir einfach feiern.“ Wenn er heute an den neunjährigen | |
| Tobias denkt, der nicht mehr leben wollte, dann ist er vor allem eines: | |
| saufroh, dass er genug Kraft hatte, sich selbst vom Gegenteil zu | |
| überzeugen. | |
| Eine Bar in Charlottenburg vor der Coronapandemie. Hier treffen sich Tobias | |
| und Justin regelmäßig. „Wenn du ganz unten bist, hast du nur zwei | |
| Möglichkeiten“, sagt Tobias und schaut auf seine Hände. „Aufgeben oder | |
| Frieden finden“, beendet Justin den Satz seines Freundes und prostet ihm | |
| zu. Es ist ein Montag, die Bar fast leer. Tobias und Justin sitzen im | |
| hinteren Teil, Rücken zur Wand, ein Mann vom Nebentisch schaut zu ihnen | |
| rüber. Dann weg, dann wieder hin. Ein Paar weiter links gibt sich keine | |
| Mühe, starrt einfach, die Frau saugt nebenbei ihren gelben Cocktail durch | |
| den Strohhalm. | |
| Interessiert, irritiert, angeekelt, provozierend – das sind die Variationen | |
| der Blicke, die den beiden seit Jahren begegnen. Für zwei Jungs auf dem Weg | |
| ins Erwachsenenleben bedeutete das viel Verunsicherung und Verletzung. | |
| Diese Verunsicherung klopft heute noch gelegentlich an. Für die beiden gibt | |
| es einen elementaren Unterschied zwischen Schauen und Starren. Wer schaut, | |
| stellt fest. Wer starrt, wertet. Dagegen helfe nur ironische Distanz. | |
| Sprüche wie „Glotzen kostet fünf Euro“. Es gibt Momente, da kommt auch das | |
| Bedauern. Auch dann hilft es, zu zweit zu sein. „Ach, ich hätte schon gerne | |
| Bartwuchs“, sagt Tobias und Justin erwidert: „Pff, wir sparen 200 Euro für | |
| Rasierklingen, jedes Jahr.“ Tobias lacht: „Hast du das etwa ausgerechnet?“ | |
| – „Klar!“ | |
| ## Viel Schmerz, viel Traurigkeit, viel Kampf | |
| An einem Sonntagnachmittag läuft Tobias durch das Johannesstift. Zeigt hier | |
| hin, dann dort hin, auf einen gepflasterten Weg, eine bepflanzte Stelle – | |
| all das hat er geschaffen. | |
| Er läuft die kleinen Gassen durch die Anlage und wird immer stiller, je | |
| näher er dem grauen Gebäudekomplex kommt. Sein ehemaliger Kindergarten. | |
| Kürzlich hat er im Garten die Bäume schneiden müssen. Das war nicht so | |
| schön. „Draußen ging es, aber sobald ich das Haus betreten habe, kribbelte | |
| mein Rücken“, sagt er. „Hier drin sind keine Erinnerungen.“ Er zeigt auf | |
| seinen Kopf. „Aber ich kann es trotzdem fühlen.“ | |
| Die Erzieherinnen sagten nach dem Unfall Sätze wie „Ist ja nicht viel | |
| passiert“, „Lasst es doch gut sein“ zu seinen und Justins Eltern. Vor | |
| Gericht wiesen sie jede Schuld von sich, sprachen von spontaner | |
| Selbstentzündung und leugneten, den Jungs brennende Kerzen gegeben zu | |
| haben. Der Prozess wurde mit einem Vergleich und einer | |
| Entschädigungszahlung beendet. | |
| „Ist ja nicht viel passiert“, wiederholt Tobias den Satz seiner ehemaligen | |
| Erzieherin und schüttelt den Kopf. Ihm ist viel passiert, viel Schmerz, | |
| viel Traurigkeit, viel Kampf. Er will nicht, dass das kleingeredet wird. | |
| Auch wenn er sich mit seinen Verbrennungen anfreunden konnte. Nie im Leben | |
| werde die Frage verschwinden, wie es ohne die Verbrennungen wohl wäre. „Wer | |
| hätte ich sein können?“ Vielleicht ist das sein größter Kampf, diese Frage | |
| zuzulassen und sich doch selbst zu mögen. | |
| 27 Aug 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Sara Tomšić | |
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