# taz.de -- Sexueller Missbrauch von Kindern: Fremdgesteuerte Symbolpolitik | |
> Eine Anhebung der Mindeststrafen für Kindesmissbrauch schützt Kinder | |
> nicht unbedingt besser. Die Justizministerin gibt dem Druck der „Bild“ | |
> nach. | |
Bild: Der Fall, der die Debatte um Strafen neu entfachte: Gartenlaube des Tatve… | |
Sexueller Missbrauch soll künftig generell als Verbrechen eingestuft | |
werden. Das hat Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) jetzt in einem | |
Eckpunkte-Paket voller Strafverschärfungen vorgeschlagen. Wie so oft im | |
Strafrecht handelt es sich dabei um Symbolpolitik – diesmal allerdings um | |
fremdgesteuerte Symbolpolitik, denn die Ministerin läuft vor allem den | |
Forderungen der Bild-Zeitung hinterher. | |
Die aktuelle Debatte begann, nachdem in NRW [1][ein neues | |
Missbrauchs-Netzwerk aufgedeckt] wurde, dessen Zentrum in Münster lag. Die | |
Diskussion hat aber erstaunlich wenig mit ihrem Anlass zu tun. | |
Für alle Täter, die an diesem Netzwerk beteiligt sind und eigene oder | |
fremde Kinder massiv missbraucht haben, wird es langjährige Haftstrafen | |
geben. Es gibt hier also keine Laxheit und schon gar keine Lücken im | |
Strafrecht. | |
Stattdessen hat die Bild-Zeitung Anfang Juni eine Diskussion um die | |
Mindeststrafen [2][für sexuellen Missbrauch] begonnen. Sexueller Missbrauch | |
von Kindern solle mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis bestraft | |
werden. Die Tat wäre dann ein „Verbrechen“. Es wäre zum Beispiel keine | |
Einstellung gegen Geldauflage mehr möglich und auch keine Ahndung per | |
Strafbefehl. Für [3][die Aufarbeitung von Taten wie in Münster] ist das | |
aber irrelevant, denn dort geht es sicher nicht um Strafen an der unteren | |
Grenze des Strafrahmens. | |
Auch Helfer- und Opfer-Verbände und nicht zuletzt die CDU/CSU vertreten die | |
Verbrechens-Forderung und wurden von Bild täglich neu in Stellung gebracht: | |
Natürlich müsse sexueller Missbrauch ein Verbrechen sein. Es klang, als ob | |
es hier um die Frage gehe, ob sexueller Missbrauch überhaupt strafbar sein | |
soll. Das ist aber nicht der Punkt. Es geht nur um die Frage, ob für jede | |
Form des Missbrauchs die Mindeststrafe bei einem Jahr liegen soll. Wenn | |
auch Strafen unter einem Jahr möglich sind, gilt das Delikt in unserem | |
Strafrechtssystem als „Vergehen“. | |
Zum Vergleich: Auch die Körperverletzung ist ein Vergehen. Es gibt leichte | |
Körperverletzungen, wie Ohrfeigen, und es gibt schwere Körperletzungen, bei | |
den denen das Opfer am Ende gelähmt oder blind bleibt. Deshalb sind bei | |
Körperverletzungen milde Strafen ebenso möglich wie langjährige | |
Haftstrafen. | |
Ein ähnliches Delikt war bisher der sexuelle Missbrauch. Auch hier gibt es | |
extrem brutale Delikte, die hart bestraft werden müssen, aber es gibt eben | |
auch leichtere Formen, etwa wenn Kinder immer wieder scheinbar zufällig an | |
den Genitalien oder am Hintern berührt werden. | |
Die Forderung, dass sexueller Missbrauch immer mit mindestens einem Jahr | |
Freiheitsstrafe bestraft werden muss, ist nicht neu. Doch in den letzten | |
zwei bis drei Jahrzehnten haben dies alle Justizministerinnen (es waren | |
fast nur Frauen) abgelehnt – eben weil der sexuelle Missbrauch ein Delikt | |
mit sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen ist. | |
Christine Lambrecht, die jetzige Amtsinhaberin, ist schon nach fünf Tagen | |
Trommelfeuer seitens der Bild-Zeitung Mitte Juni umgefallen und hat ihre | |
Fahne in den Wind gedreht. Mit dem jetzt vorgelegten Paket an Vorschlägen | |
übernimmt sie die Vorschläge der Bild-Zeitung in weitem Umfang. | |
Bild-Chefredakteur Julian Reichelt hat dies in einem Kommentar auch mit | |
großer Genugtuung festgestellt. | |
In der Praxis ist damit sicher kein besserer Schutz vor sexuellem | |
Missbrauch verbunden. Jede Strafrechts-Expertin weiß, dass die Höhe der | |
Strafdrohung weit weniger wichtig ist, als die Wahrscheinlichkeit, ertappt | |
zu werden. Dies gilt natürlich auch für die Anhebung der Mindeststrafe. | |
Sinnvoll wäre dagegen, dass die Bundesländer den Jugendämtern und der | |
Polizei für die Aufdeckung solcher Taten mehr Personal zur Verfügung | |
stellen und dieses besser ausbilden. | |
Zu befürchten ist sogar, dass Lambrechts Verschärfungen kontraproduktiv | |
sind, weil es im Gesetz keine angemessene Strafdrohung mehr gäbe. Es könnte | |
dann etwa sein, dass Kinder lieber auf eine Aussage gegen ihren Onkel, | |
Trainer oder Lehrer verzichten, weil sie nicht wollen, dass gleich dessen | |
Existenz (zum Beispiel als Beamter) bedroht ist. Es könnte auch sein, dass | |
die Staatsanwaltschaft angesichts der hohen Strafdrohung schon geringste | |
Widersprüche in den Aussagen der Kinder zum Anlass nimmt, das Verfahren | |
wegen nicht ausreichendem Tatverdacht einzustellen. | |
Es ist wie oft mit populistischen Forderungen. Sie zielen vor allem auf | |
Emotionen und sind nicht an Differenzierung interessiert. Dass manche | |
Medien so agieren, ist bekannt. Aber von einer Justizministerin der SPD | |
hätte man mehr rechtspolitische Standfestigkeit erwarten können. | |
2 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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