# taz.de -- Kalender des Terrors | |
> Verschlüsseltes Wissen, von Historikern enttarnt: Der Dienstkalender | |
> Heinrich Himmlers führt in den Arbeitsalltag eines Massenmörders und | |
> rassistischen Irren | |
Von Klaus Hillenbrand | |
Ein Werk mit dem Untertitel „Der Dienstkalender Heinrich Himmlers | |
1943–1945“ scheint nicht unbedingt dazu angetan, lange Abende mit | |
erbaulicher Lektüre zu verkürzen. Wer will schon wissen, wen der notorische | |
Massenmörder zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort getroffen hat? Was hat | |
der Leser von dem Wissen, dass der Reichsführer SS am 12. Februar 1943 von | |
15 bis 16 Uhr einem SS-Sonderkommando einen Besuch abgestattet hat und | |
anschließend einen SS-Gruppenführer traf? | |
Tatsächlich wären die im Dienstkalender Himmlers gesammelten Daten, Orte | |
und Begegnungen ohne den dazu gehörenden Kontext ein weitgehend | |
verschlüsseltes Wissen. Seinen überragenden Wert erhält das Buch erst durch | |
die weit über eintausend Fußnoten und die Anmerkungen im Text selbst. Sie | |
erklären die Geschichte hinter den dürren Einträgen und versetzen uns in | |
die Lage, ein detailliertes Bild von der Amtsführung Heinrich Himmlers zu | |
erhalten – und sie laden zu weiteren Forschungen ein. Dabei ist die | |
Entdeckung dieser Papiere eine Geschichte für sich. Jahrzehntelang lagen | |
die Kalender verschlossen in Moskau. Erst Anfang der 1990er Jahre | |
entdeckten Wissenschaftler Himmlers Dienstkalender für die Jahre 1941/42 | |
und veröffentlichten 1999 eine vorbildliche Edition. Der nun vorgelegte | |
Band beruht auf dem Fund zweier Ordner im Archiv des russischen | |
Verteidigungsministeriums. Bei der Bearbeitung orientierten sich die | |
Historiker um Matthias Uhl am Werk ihrer Vorgänger. | |
Und so ist dieser Bearbeitung zu entnehmen, dass Heinrich Himmler am 12. | |
Februar 1943 nicht irgendein SS-Kommando besucht hat. Es handelte sich um | |
das Vernichtungslager Sobibor, im besetzten Polen gelegen, wo zum Zeitpunkt | |
seiner Visite schon weit über 100.000 Juden ermordet worden waren. Der | |
Reichsführer SS wohnte dort einer Vergasung von etwa 200 Frauen und Mädchen | |
bei. Beim anschließenden Treffen mit Odilo Globocnik, dem Leiter des | |
„Aktion Reinhardt“ genannten Massenmords, ging es um eine schriftliche | |
Aufstellung der den Juden geraubten Wertgegenstände und deren Verwertung. | |
Weiterhin erfahren wir, dass Himmler am 18. Januar 1944 eine Art Abrechnung | |
Globocniks über die zwischenzeitlich beendete „Aktion Reinhardt“ las, dass | |
er am 13. Juli 1944 seine Zustimmung erteilte, 500 Wecker aus der „Aktion | |
Reinhard“ für die Ausstattung von KZ-Wachstuben zu verteilen und am 6. | |
Dezember 1944 die Verteilung von 24.000 Uhren, 3.000 Weckern und 5.000 | |
Füllfederhaltern aus dem Besitz ermordeter Juden an die Waffen-SS befahl. | |
Was wir nicht wissen, ist, wie viele dieser Uhren heute noch bei Nachfahren | |
der Verbrecher ticken. | |
Dabei war Himmlers Tätigkeit als zentrale Instanz des Judenmords nur eine | |
von Dutzenden Funktionen, denen der Mann nachging. Der Reichsführer SS | |
fungierte zugleich als Chef der deutschen Polizei (und damit des | |
Terrorapparats), als Reichskommissar für die Festigung des deutschen | |
Volkstums, als Verantwortlicher für die Partisanenbekämpfung, als | |
Reichsminister des Innern, Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des | |
Ersatzheeres und weiterer NS-Institutionen. Seine Machtfülle war nahezu | |
unbeschränkt, seine Politik mörderisch, seine Vorgehensweise drakonisch. | |
Angesichts dieser Ämterhäufung war Himmlers Tagesablauf eng getaktet. Oft | |
bis in die Nacht hinein traf er Untergebene, gab Befehle aus und, für den | |
Zeitraum dieses Buchs 168-mal, besprach sich mit Hitler. Er war ständig | |
unterwegs, anfangs meist per Flugzeug, später, angesichts der Bedrohung | |
durch alliierte Flugzeuge, mehr mit seinem Sonderzug „Steiermark“, und | |
wechselte dabei seine Feldkommandostellen, gelegen unter anderem in | |
Salzburg/Berchtesgaden, Winniza in der Ukraine und nahe der Wolfsschanze in | |
Ostpreußen. Zudem besuchte er Truppenübungsplätze, hielt Reden vor | |
SS-Offizieren, besaß einen Dienstsitz in Berlin und kümmerte sich parallel | |
um seine Familie wie um seine Geliebte. | |
Gegen Ende seiner Karriere, da war sein Reich schon stark geschrumpft, | |
versuchte er sich gar erfolglos als Heerführer. Was Himmler bei seiner | |
Arbeit alles behandelte, wirft ein Licht auch auf seinen Charakter. Denn es | |
ging ihm keineswegs nur um Massenmord und Ausbeutung von KZ-Häftlingen, er | |
blieb eben auch ein rassistisch denkender Irrer. Da beauftragte er am 3. | |
März 1943 das NS-Ahnenerbe nach einer dänischen Greisin zu fahnden, die | |
angeblich uralte kimbrisch-wikingische Stricktechniken beherrschte. Am 30. | |
Mai 1944 besprach er mit einem Astrologen die Horoskope von Hitler, | |
Churchill und Stalin, und am 12. Dezember 1944 unterrichtete er sich über | |
beheizbare Konservendosen. Als Pedant entpuppt sich Himmler bei einem | |
Essen, als er entschied, wie die Stempel der allgemeinen SS sich von der | |
Waffen-SS zu unterscheiden hätten, und am 25. Juni 1944, als er darüber | |
Aufklärung verlangte, wie Freuds „Sexualtheorie“ in den Schreibtisch eines | |
entlassenen Kommandeurs einer SS-Helferinnenschule gelangt sei. | |
Himmlers Dienstkalender endet am 14. März 1945. Da übernahm er die | |
Patenschaft für das achte Kind des SS-Manns Wilhelm Dollbaum. Am 23. Mai | |
desselben Jahres zerbiss er, von einem britischen Kommando enttarnt, eine | |
Zyankalikapsel und starb. | |
13 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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