# taz.de -- Alle, die ich liebe oder lieben muss | |
> Entsagung, Innerlichkeit, Stuttgart: Anna Katharina Hahns | |
> spätromantischer Roman „Aus und davon“ | |
Von Stephan Wackwitz | |
Mit ihrem neuen Buch „Aus und davon“ setzt Anna Katharina Hahn ein Projekt | |
fort, das sie 2009 mit „Kürzere Tage“ begonnen hat: das feinmalerische | |
Panoramaporträt bildungsbeflissener Stuttgarter Kleinbürgermilieus. Ihr | |
Zugriff ist geprägt von einem mit beträchtlicher Virtuosität | |
durchgehaltenen Naturalismus, der sich von den ästhetischen Utopien der | |
schon kanonischen Stuttgart-Romane Hermann Lenz’und Manfred Essers | |
programmatisch fernhält. Lenz’Eugen-Rapp-Romane restaurierten zwischen | |
Killesberg und Hoppenlaufriedhof eine kulturreligiös hoch aufgeladene | |
Stoa. In Essers „Ostend-Roman“ wurde die literarische Avantgarde und ihr | |
Anspruch auf Befreiung der Sinne und Erkentnismöglichkeiten in ein (heute | |
längst durchgentrifiziertes) Stuttgarter Arbeiterviertel projiziert. | |
Hahn ist, zumindest vordergründig, bescheidener. Das Pathos ihrer | |
Beschreibungskunst prägt eine Art Andacht zum Unbedeutenden. Zum | |
„Kuttereimer“ wie die Mülltonne auf Schwäbisch heißt, zum „Olgäle“,… | |
das Olgakrankenhaus dort mit morbider Vertraulichkeit genannt wird, zum | |
genau herausgehörten Elftklässlerinnenslang („Chill dich mal, Omi“). In | |
Hahns neuem Roman ist Stuttgart, wie es eben ist. | |
Wie ist es? Ziemlich desolat. Der Physiotherapeutin Cornelia ist der Mann | |
weggelaufen und in seine griechische Heimat zurückgekehrt. Sie selbst | |
wiederum flüchtet vor ihrer Depression nach New York und von dort aus | |
weiter nach Meadville, PA, wo sie, auf den Spuren ihrer im 19. Jahrhundert | |
nach Amerika ausgewanderten Verwandten, eine entfernte Cousine trifft und | |
ein flüchtiges Liebesabenteuer absolviert. Die Oma daheim ist derweil von | |
den verständlicherweise einigermaßen verstört zurückgelassenen Kindern | |
überfordert, und der Opa ist nach einem „Schlägle“ bei seiner neuen | |
Freundin. Der dicke, noch ganz kindliche Bruno wird in der Schule gemobbt, | |
während sich Stella, die Teenager-Tochter, mit den vielfältigen Abenteuern | |
der weiblichen Adoleszenz tröstet. Der junge Flüchtling Hamid weicht ihr | |
nicht von der Seite, zieht dann aber zu seiner Familie nach Berlin. | |
Zum Schluss sind die Figuren noch einsamer und von noch tieferer stiller | |
Verzweiflung erfüllt, als sie es jemals gewesen sind. | |
Die erzählerischen Ausflüge in die Geschichte der württembergischen | |
Auswanderungsbewegung nach Amerika vermehren die dicht am Innenleben der | |
Figuren entlanggeführte Erzählung um perspektivische Durchblicke in die | |
Welt jenseits von Stuttgart und in die Zeit jenseits der unglücklichen | |
Gegenwart. Aber weder die Erzählung noch ihre Figuren finden den rechten | |
Ausweg aus dem von Stadtautobahnen und missratenden Großbaustellen | |
zerpflügten Stuttgarter Talkessel. „Selbst auf einem anderen Kontinent | |
stecke ich in dieser rasenden Kugel fest, in klebriger Innigkeit | |
zusammengebacken mit allen, die ich liebe oder lieben muss.“ | |
Entsagung, Innerlichkeit, stilles Unglück, Wehmut und die Verengung von | |
Lebensperspektiven markieren einen biedermeierlich-spätromantischen Zug in | |
Anna Katharina Hahns Roman – eine an Wilhelm Raabe oder Theodor Storm | |
erinnernde ästhetische Atmosphäre. In der Schilderung von amerikanischer | |
Auswanderung und Rückkehr der Familie nach Schwaben aus der Perspektive | |
einer Puppe kommt dieser Zug auch erzähltechnisch zu sich selbst. Stuttgart | |
ist zur Zeit Mörikes, Raabes, Friedrich Theodor Vischers und des | |
schwäbischen Dichterkreises um Ludwig Uhland eine Hauptstadt der | |
Biedermeierliteratur gewesen. | |
Literaturgeschichtlich-sozialpsychologische longue durée: Die Metropole am | |
Neckar inspiriert offenbar noch 150 Jahre später technisch perfekte, vage | |
deprimierende, von Innerlichkeit und einer Melancholie des | |
„Unwiederbringlichen“ umwehte Literatur. Sagt das etwas über die Stadt aus | |
oder über die Zeitumstände, in denen wir uns befinden? | |
13 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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