| # taz.de -- Brüllend lautes Schweigen | |
| > Ben Frosts Oper über den NSU-Mord an Halit Yozgat ist wegen Corona | |
| > bislang nicht zur Uraufführung gekommen. Erste Einblicke hat die | |
| > Staatsoper Hannover hinter verschlossenen Türen nun als Film präsentiert | |
| Bild: Immer wieder suchen die Kameras einen neuen Blick aufs Geschehen – aber… | |
| Von Jan-Paul Koopmann | |
| Die große Geschichte bleibt natürlich aus – ja selbst auf ein erhellendes | |
| Bild wartet man vergebens, obwohl diese gewaltige Oper so überaus präzise | |
| von Verbrechen der jüngsten Vergangenheit erzählt. Die Rede ist von Halit | |
| Yozgat, der in einem Kasseler Internetcafé vom NSU ermordet wurde, ohne | |
| dass Polizei und Öffentlichkeit die rassistische Mordserie auch nur als | |
| solche erkannt hätten. Über den Rassismus von Ermittler:innen und | |
| Presselandschaft ist viel geschrieben worden, aber bei diesem neunten | |
| Anschlag des NSU lag der „blinde Fleck“ zweifellos auch daran, dass ein am | |
| Tatort befindlicher Verfassungsschutzmitarbeiter von den Schüssen und der | |
| Leiche nichts mitbekommen haben will. | |
| ## Neuneinhalb Minuten rekonstruierter Mord | |
| Komponist und Regisseur Ben Frost hat sich der Geschichte angenommen, | |
| sollte im Auftrag von Staatsoper und Schauspiel Hannover in Zusammenarbeit | |
| mit dem Holland-Festival die Oper „Der Mordfall Halit Yozgat“ inszenieren. | |
| Weil die geplante Uraufführung im April wegen Corona nicht zustande kam, | |
| ist nun ein zweistündiger Film daraus geworden, den Regisseur Richard Mosse | |
| und Kameraman Trevor Tweeten aus den Proben und einem Durchlauf hinter | |
| verschlossenen Türen destilliert haben. | |
| Im Mittelpunkt stehen knapp neuneinhalb Minuten am 6. April 2006. Mit Hilfe | |
| geleakter Polizei-Unterlagen wurde akribisch rekonstruiert, wie Halit | |
| Yozgat hinter dem Tresen erschossen wurde, während andere Menschen in einer | |
| Telefonkabine und an Computern im Nebenraum saßen. Zu sehen ist dabei | |
| ausdrücklich die Darstellung von Verfassungsschützer Andreas Temme, der | |
| für die Polizei nachgespielt hat, wie er seine 50 Cent auf den Ladentisch | |
| gelegt und das Lokal verlassen habe, ohne den Leichnam dahinter zu | |
| bemerken. Gefunden wurde Halit Yozgat wenige Minuten später von seinem | |
| Vater, der gekommen war, um seinen Sohn abzulösen. | |
| Viel weiter sind die Strafverfolger:innen nicht gekommen, möglicherweise | |
| klärende Akten hält der Verfassungsschutz mit politischer Rückendeckung | |
| noch für Jahre unter Verschluss. Die Suche nach der Wahrheit – und das muss | |
| man wohl wirklich so gewichtig sagen – ist aufs Terrain der Kunst | |
| weitergezogen. | |
| Und das nicht erst jetzt: Bereits das Libretto von Daniela Danz basiert auf | |
| der Kunstaktion „77sqm_9:26min“, mit der die Gruppe Forensic Architecture | |
| den Fall rekonstruiert hat, um Temmes Aussagen mit wissenschaftlichen | |
| Mitteln zu hinterfragen. Wie laut waren die Schüsse? Wie breitet sich eine | |
| Schießpulverwolke auf diesen 77 Quadratmetern aus? Und was hätte Temme aus | |
| welchem Winkel übersehen können? | |
| Um diese klinisch nüchternen Daten ist nun auch die Oper konstruiert – und | |
| sie übernimmt auch diesen Grundgedanken des Kunstprojekts: „Das | |
| Internetcafé als Mikrokosmos steht stellvertretend für die größere | |
| politische Kontroverse, die folgen sollte.“ | |
| Umschwirrt von Kameras spielen die Sänger:innen die neun Minuten und 26 | |
| Sekunden immer wieder aufs Neue. Sie singen Fragmente des Telefonats aus | |
| der Kabine: „Gestern hat es schon wieder geschneit“, heißt es lapidar, | |
| „Deutschland kaltes Land“ und „Ich hab Sehnsucht“. | |
| Zwei Schüsse hallen, Temme verlässt den Schauplatz – und alles geht mit neu | |
| verteilten Rollen von vorn los. Quälend monoton hämmern sich bald die | |
| Fakten ins Hirn, während die Verunsicherung paradoxerweise immer nur größer | |
| wird. Wer ist hier wer? Und was eigentlich? Zeuge, Mitwisser oder | |
| zufälliger Besuch. Vielleicht sogar Täter? | |
| ## Mit jeder Minute fragwürdiger | |
| Die Spannung zwischen den strengen Bewegungsabläufen und dem gespielten | |
| Ausdruck ist kaum zu ertragen, wenn erst nur ein Zittern Emotionalität | |
| anzeigt, aber sie dann umso heftiger herausbricht: „Das ist entsetzlich, | |
| ich kann das nicht spielen, ich kann mir das nicht vorstellen“, singen sie | |
| zwischendurch in das Protokoll, während die modellierte Handlung mit jeder | |
| Wiederholung fragwürdiger wird. | |
| Der Opernfilm „Der Mordfall Halit Yozgat“ hievt klassisches | |
| Dokumentartheater auf eine zweite, eine technische Ebene: Wie schwebend | |
| bewegen sich die Kameras auf berechneten Pfaden um den Bühnenaufbau, halten | |
| immer wieder inne, wenn es durch eine Öffnung in den weißen Seitenwänden | |
| etwas zu erspähen gibt. | |
| Aber es bleibt bei der enttäuschten Hoffnung, vielleicht über den 13. | |
| Perspektivwechsel aus neuem Blickwinkel auf den frisch ausgetauschten | |
| Schauspieler doch noch irgendein erhellendes Detail zu entdecken. Und | |
| wieder lassen einen die beiden Schüsse aus dem Lautsprecher zusammenfahren, | |
| während Temme weiter reglos dasitzt. | |
| Gerahmt wird die endlos kreisende Erzählung nur von Ben Frosts Musik: ein | |
| Krächzen und Poltern, das mit Gewalt aus dem Orchester hervorbricht. Frost | |
| selbst vergleicht die rhythmischen Anschläge mit dem Brutalismus von | |
| Schostakowitschs Streichquartetten – und ihrer Nähe zu tempobetonten | |
| Heavy-Metal-Spielarten. Wie dort die Rhythmusgitarre, zimmert hier die | |
| Streicherabteilung an einer immer undurchdringlicheren Soundwand. Mal | |
| doppelt ihr Auf und Ab das Lamentieren des Zeugen, dann peitscht die | |
| Trommel wieder hoch zur bedrohlich-atmosphärischen Draufsicht – und | |
| zwischen allem wummern die elektronischen Drones, für die Ben Frost | |
| berüchtigt ist. | |
| Das allerdings gar nicht mit der Oper – es ist auch ja erst seine zweite –, | |
| sondern wegen seiner Experimente in eher popnahen Zusammenhängen. Da hat | |
| er etwa den großartigen Soundtrack der mittelmäßigen (und ersten deutschen) | |
| Netflix-Serie „Dark“ zu verantworten, oder zuletzt über die Kollaboration | |
| mit den legendären Swans von sich reden gemacht, deren Avantgarde-Noise | |
| Frost auf dem jüngsten Album mit fast besinnlichen Synthies auf neue Wege | |
| begleitet hat. | |
| In „Der Mordfall Halit Yozgat“ geht es nun der Musikalität selbst an der | |
| Kragen. Als nervtötende Gewaltorgie verbleibt die Akustik als einzig | |
| unzweifelhaftes Element und räumt bald auch mit letzten Bedenken auf: Dies | |
| ist weder eine Tätergeschichte noch mystifiziert oder verkünstelt es den | |
| realen Mord an einem realen Menschen. Alles liegt hier offen auf dem Tisch | |
| – und es wehrt sich mit Händen und Füßen gegen jeden Versuch, dem | |
| Naziterror einen ästhetischen Sinn überzustülpen. | |
| Ein Ende hat diese Oper nicht, sie hört nur irgendwann auf in Zwielicht und | |
| Gestöber zwischen sichtlich entkräfteten Musiker:innen. Und dann geht auch | |
| das Publikum: ratlos und beschädigt, und mit der quälenden Gewissheit, dass | |
| über die behördlich verordnete Ungewissheit das letzte Wort noch lange | |
| nicht gesprochen ist. | |
| „Der Mordfall Halit Yozgat“ war vergangenes Wochenende als Stream zu sehen. | |
| Weitere Termine gibt es bislang nicht; weitere Infos auf: | |
| www.staatstheater-hannover.de | |
| 19 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |