| # taz.de -- Aus der Zeit gefallen am Drei-Finger-Felsen | |
| > Hari Kunzru lässt rund um einen mythischen Ort ein Panoptikum schräger | |
| > Figuren auferstehen. Im Zentrum von „Götter ohne Menschen“ steht ein | |
| > verschwundener Junge | |
| Bild: Hier könnte der Roman spielen: Felsformation in der Wüste Arizonas | |
| Von Klaus Bittermann | |
| Wenn es um überirdische Phänomene geht, landet man schnell bei Esoterikern, | |
| Schamanen, Wahrsagern und merkwürdigen Gestalten, die auf die Komplexität | |
| einer außer Kontrolle geratenden modernen Welt mit Globuli, Hypnose und der | |
| Hoffnung auf Außerirdische reagieren und sich ihren eigenen Reim machen, | |
| der manchmal auch nicht verrückter klingt als eine rationale Erklärung für | |
| ein Phänomen, das niemand versteht. | |
| Hari Kunzru hat sich mit seinem neuen Buch „Götter ohne Menschen“ in eine | |
| Gegend begeben, in der schon seit Jahrhunderten merkwürdige Dinge vor sich | |
| gehen, irgendwo in eine Wüste, aus der eine bizarre Felsformation | |
| herausragt, die aussieht wie drei in den Himmel wachsende Finger, einem | |
| heiligen Ort für Indianer, einem Anziehungspunkt für Freaks, die Kontakt zu | |
| Außerirdischen suchen, für Abenteurer, Touristen, Militär, Verrückte und | |
| Spinner, aber auch für Leute, die auf der Flucht rein zufällig dort | |
| gelandet sind. Kunzru entwirft mit großer Könnerschaft und Eleganz | |
| verschiedene Handlungsstränge, die sich berühren, überlappen, schneiden, | |
| und es gelingt ihm das Kunststück, durch die Kraft seiner suggestiven | |
| Erzählweise den Leser nicht den Überblick über das zahlreiche | |
| Handlungspersonal verlieren zu lassen. | |
| Im geheimen Zentrum der Geschichte steht das Verschwinden des kleinen | |
| Jungen Raj, der an einer starken Ausformung des Asperger-Syndroms leidet, | |
| weshalb es unerklärlich ist, weshalb er nach längerer Zeit völlig | |
| unbeschadet an einem weit entfernten Ort, einem geheimen militärischen | |
| Stützpunkt, wieder auftaucht und es ihm danach offenbar besser geht als | |
| zuvor. | |
| „Nur eine Generation vom Dorfleben entfernt, den Lehmhütten, dem | |
| selbstgebrannten Schnaps und den Ehrenmorden“, ist aus dem Vater, der einer | |
| sehr traditionellen indischen Familie entstammt, ein erfolgreicher | |
| Statistiker geworden, der mit einem Supercomputer Börsenschwankungen | |
| berechnen und ausnutzen kann. | |
| Die Beziehung zur jüdischen Mutter wird durch das autistische Kind Raj auf | |
| eine harte Probe gestellt, und allein die aufbrechenden Konflikte des | |
| schnell in die Upper Class aufsteigenden Paars beschreibt Kunzru in seiner | |
| ganzen absurden, katastrophalen Lächerlichkeit. Um den kurz bevorstehenden | |
| Nervenzusammenbruch zu vermeiden, fahren sie in Urlaub, werden aber wegen | |
| des kleinen Schreimonsters aus allen Luxushotels hinauskomplimentiert und | |
| landen schließlich in einem heruntergekommenen Motel in der Wüste, wo der | |
| Streit erst richtig eskaliert, die Frau abhaut, sich betrinkt, vergewaltigt | |
| wird, bis schließlich am Drei-Finger-Felsen das Kind sich in Nichts | |
| auflöst. | |
| Das Ehepaar durchläuft jetzt erst richtig die Hölle, nicht nur wegen des | |
| Verlusts des Kindes und der Frage der Schuld, mit der sich die beiden | |
| selbst und gegenseitig quälen, sondern weil sie sich ins Fernsehen begeben, | |
| um an die Entführer zu appellieren und mögliche Zeugen ausfindig zu machen. | |
| Kunzru seziert nun die psychologische Falle, in die beide bewusstlos | |
| hineinstolpern, denn das Mitleid der Öffentlichkeit verwandelt sich bald in | |
| Hass, der sich im Netz wie ein Virus rasend schnell verbreitet. Die | |
| Situation wird immer grotesker, und Kunzru treibt seine Protagonisten immer | |
| mehr in den Wahnsinn, vor allem den Vater, den das Unerklärliche des | |
| Verschwindens wie des Wiederauftauchens seines Sohnes keine Ruhe lässt. | |
| Allein dieser virtuos erzählte Handlungsstrang hätte für ein grandioses | |
| Buch ausgereicht, aber Kunzru kommt es darauf an, ein Klima zu erzeugen, | |
| eine Atmosphäre zu erschaffen, die so drückend ist wie die Hitze, so | |
| geheimnisvoll wie der grün leuchtende Junge, der von einem Indianer | |
| begleitet wie eine Fata Morgana in die Wüste geht, irgendwie real, aber | |
| unerreichbar, und den 88 Jahre vorher ein Regierungsbeauftragter sieht, der | |
| die Sprache der Ureinwohner erforschen soll, und der mit seiner Meldung des | |
| Vorfalls beim Sheriff die Verfolgung und Ermordung eines Indianers in Gang | |
| setzt, der ihm seine Frau ausgespannt hat. | |
| Oder die Freaks, die am Drei-Finger-Felsen ihr Lager aufschlagen und mit | |
| merkwürdigen Antennen und Reflektoren sich als Außenposten eines | |
| intergalaktischen Kommandos sehen, lässig herumlungern, Haschisch rauchen | |
| und die freie Liebe pflegen. Oder der zugedröhnte und in seiner tumben | |
| Ignoranz perfekt in Szene gesetzte Rockstar aus England, der in Amerika | |
| eigentlich eine Platte aufnehmen soll, aber nicht die geringste Idee hat | |
| und auf der Flucht vor den ihm auf die Nerven gehenden Bandmitgliedern und | |
| seinem Manager im gleichen Motel strandet wie Raj, der zum ihm ein | |
| spontanes Zutrauen fasst, das seinem Vater ein Rätsel ist. | |
| Kunzru lässt ein Panoptikum von schrägen Figuren auferstehen, die vom | |
| Schicksal, vom Leben und manchmal brutalen Zufällen hin und her | |
| geschleudert werden, Getriebene ihrer Bedürfnisse, die aus dem Strudel des | |
| Lebens nicht mehr herausfinden. Nur dieser Drei-Finger-Felsen steht da wie | |
| ein Monument in der Wüste und scheint Verzweiflung, Sehnsucht, Hoffnung | |
| magisch anzuziehen, durch seine bizarre Schönheit und sein Spiel mit der | |
| Sonne; er scheint die Fantasie und die Vorstellungswelt der Menschen zu | |
| befeuern. | |
| Hari Kunzru hat Mark Fishers Überlegungen zur Hauntologie viel zu | |
| verdanken, wie er kurz nach Fishers Suizid 2017 twitterte. Dabei geht es um | |
| den Zustand, „in dem das Leben weitergeht, aber die Zeit irgendwie zum | |
| Stillstand gekommen ist“. Das Unbegreifliche und das Gespenstische sind | |
| dabei das Motiv und der Antrieb, die dafür sorgen, dass das Leben überhaupt | |
| weitergeht, aber das Handeln der Figuren ist auf merkwürdige Weise | |
| vergeblich und aus der Zeit gefallen. Kunzrus Kunst ist es, dass man nicht | |
| aufhören mag, die lapidar erzählten Schicksale der Figuren weiter zu | |
| verfolgen, auch wenn sie nicht besonders helle sind. | |
| 30 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Bittermann | |
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