# taz.de -- Großes mit Kleinem | |
> Auto in Flammen, Fenchelsamen in weiter Ferne. Wer glaubt, in der | |
> Prignitz sei nichts los, der täuscht sich gewaltig | |
Von Philipp Maußhardt (Text) und Karoline E. Löffler (Illustration) | |
Zwischen dem ersten Toast mit selbstgemachter Holundermarmelade und dem | |
zweiten Toast mit selbstgemachtem Birnenmus vergleiche ich jeden Morgen die | |
Coronafallzahlen der deutschen Landkreise. Auf der Webseite des | |
Robert-Koch-Instituts muss ich sehr weit runterscrollen, denn die Prignitz | |
liegt verlässlich bei den Kreisen mit den wenigsten gemeldeten Coronafällen | |
bundesweit. Anfang der Woche waren es genau 25 – insgesamt. | |
Den empfohlenen Mindestabstand in der Prignitz einzuhalten, ist nicht | |
sonderlich schwer. Auf einem Quadratkilometer leben im Durchschnitt 36 | |
Menschen. Vom Hauseingang gezählt sind es bis zum Hauseingang meiner | |
nächsten Nachbarin exakt 74 Schritte. Bis zum übernächsten Nachbarn weiß | |
ich es nicht so genau, ich nehme dafür meist das Auto. | |
Nach den Coronazahlen im Netz lese ich anschließend die neuesten | |
Polizeimeldungen im Prignitzer. Sie liefern mir die Gewissheit, dass in | |
diesem Zipfel der Welt auch wichtige Dinge geschehen. Bei einer 91-jährigen | |
Frau in Wittenberge wurde eingebrochen und dabei ein Blumentopf zerstört | |
(20. April), und, ebenfalls in Wittenberge, brannte ein Mülleimer, der von | |
einem Anwohner mit etwas Wasser aus einer Flasche gelöscht werden konnte | |
(22. April). Die Titelzeile im Prignitz Express, der Wochenzeitung der | |
Region, lautete in diesen Tagen: „Ampel regelt Straßenverkehr“. Das | |
beruhigte mich und alle anderen Leser ungemein, wohingegen die Meldung vom | |
14. Mai, wonach ein 52-jähriger Mann aus Bayern von der Polizei | |
aufgegriffen wurde, der mit einem Filzstift auf das Ortsschild von Bad | |
Wilsnack einen Smiley malte, mehr Fragen als Antworten hinterließ. | |
Nach der Lektüre von Fallzahlstatistiken und Lokalzeitung widme ich mich | |
der täglichen Frage: Was gibt es heute zum Abendessen? Noch nie hatte ich | |
so viel Zeit, darüber nachzudenken. | |
Als ich dann für die Füllung eines Schweinerückens, ein Rezept aus der | |
Toskana, Fenchelsamen brauche und deswegen in meinem Auto zum Edeka in | |
Wittenberge unterwegs bin, passiert die aufregendste Sache während des | |
Lockdowns und der vergangenen fünf Jahre meines Lebens: An der einzigen | |
Ampel auf der 27 Kilometer langen Strecke steigt plötzlich eine kleine | |
Rauchwolke aus dem Motor auf. Ich rolle noch bis zum nahen Edeka-Parkplatz, | |
dann sehe ich schon ein Feuer aus der Motorhaube schlagen. | |
Zehn Minuten später steht mein Auto in Flammen, und als schließlich die | |
Feuerwehr kommt, ist nur noch ein bisschen Metall und geschmolzenes Plastik | |
übrig. Es ist ein eindrucksvoller Anblick und auch ein bisschen ein | |
Lehrstück über den Verfall von Werten in dieser schlimmen Zeit. Es steht | |
dann alles zwei Tage später auch ordnungsgemäß im Polizeibericht im | |
Prignitzer. Ich kaufe an diesem Tag keine Fenchelsamen mehr ein, sondern | |
fahre mit dem Taxi wieder nach Hause. | |
Bei Norma und Netto, den beiden einzigen Supermärkten bei mir am Ort, gibt | |
es so ausgefallene Dinge wie Fenchelsamen nicht. Obwohl ich dort, mit so | |
viel Zeit wie noch nie, auch hin und wieder Überraschungen erlebe. Im | |
Norma-Regal habe ich etwa einen ungesüßten, biologisch hergestellten Saft | |
aus schwarzen Johannisbeeren gefunden. Sieh mal an! Und Netto hatte | |
tatsächlich echte Safranfäden im Angebot, das Gramm für 1,99 Euro. Die | |
Bratensauce, verfeinert mit Norma-Johannisbeersaft und Bitterschokolade, | |
schmeckt hervorragend, und das Netto-Safranrisotto ebenso. | |
Die verordnete Langeweile nutzte ich auch für ein paar Backexperimente, | |
einem Gebiet, auf dem ich bislang immer versagt habe. Als Mehl und Hefe | |
nicht zu bekommen waren, griff ich zu einer Fertigbackmischung, dazu gab | |
ich Dr. Oetker’s Vanillepudding und gefrorene Heidelbeeren aus der | |
Tiefkühltruhe vom vergangenen Jahr. | |
Eigenlob stinkt, ich weiß, aber dafür ging der nächste Versuch, aus reinem | |
Hanfmehl (stand in Wittenberge verloren im sonst ausverkauften Mehlregal) | |
einen Kuchen herzustellen, völlig in die Hose. Er landete nach einem | |
Bissen, der bitter-gallig am Gaumen klebte, sofort im Biomüll. | |
Am vergangenen Wochenende hatten wir Gäste aus Zittau. Wir grillten im | |
Garten. Die Würste hatte ich [1][wie immer bei Fleischer Schlede] in Lenzen | |
geholt. Seine Schutzmaske hing Schlede irgendwo zwischen Kinnlade und | |
Kittelkragen und er murmelte etwas von „Wahnsinn“ und dass er seit Corona | |
plötzlich von seinen Kunden Trinkgeld bekomme, „weil die Kneipen | |
geschlossen haben“. Kaum waren die Zittauer dann am Sonntagnachmittag | |
wieder gefahren, klingelten zwei Familien aus der Nachbarschaft an der | |
Haustüre, jeweils mit einem Kuchenblech bewaffnet. Meinen fragenden Blick | |
angesichts der sechs Personen wischte einer der Besucher mit dem Hinweis | |
beiseite: „Es gibt im Dorf ja nur zwei Straßen. Und Familientreffen von | |
zwei Parteien sind schließlich wieder erlaubt.“ | |
Ja, bei uns ist viel los. Morgen fahre ich mit meinem neuen Auto wieder | |
nach Wittenberge. Wegen Fenchelsamen. Aber ich habe jetzt einen | |
Feuerlöscher dabei. Der hässliche schwarze Fleck auf dem Edeka-Parkplatz | |
ist immer noch da. | |
Ein Schwabe in der Prignitz | |
Vergangenes Jahr hat unser Autor in einer Serie von Texten darüber | |
berichtet, wie er sich die Lebensmittelrealität Brandenburgs erschließt. | |
Wir wollten wissen, wie es ihm während Corona dort ergeht. | |
23 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Mausshardt | |
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