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# taz.de -- Champagner und Chili Cheese Fries
> In Thorsten Nagelschmidts neuem Roman geht es um die Menschen, für die
> das Feiern der anderen Arbeit ist: Rettungssanitäterinnen,
> Späti-Besitzerinnen, Polizisten und Taxifahrer. Seine Premierenlesung
> wurde aus dem Festsaal Kreuzberg gestreamt
Bild: Thorsten Nagelschmidt mit Jörg Sundermeier im Festsaal Kreuzberg
Von Jan Jekal
Thorsten Nagelschmidts neuer Roman „Arbeit“ wird gerade allerorts als
„Berlin-Roman“ bezeichnet, aber das darf man nicht gegen ihn verwenden. Ja,
das Buch spielt in Kreuzberg, und ja, es spielt nachts, und ja, es spielt
in Spätis und Clubs und Tankstellen, aber nicht so, wie man es vermuten
könnte, wenn man Halbwissen über Nagelschmidt hat. Wenn man zum Beispiel
weiß, dass er in der Punkband Muff Potter spielt und dass er in seinen
Vierzigern ist. Was ich sagen möchte: Nagelschmidt ist kein mittelalter
Männerautor, der Alkoholkonsum mit einer Persönlichkeit verwechselt. Sein
Berlin-Roman ist einer, der das Label mit Sinn füllt.
Es geht in seinem Buch um die Menschen, für die das Feiern der anderen
„Arbeit“ ist, die neuerdings „systemrelevant“ Genannten:
Rettungssanitäterinnen zum Beispiel, Späti-Besitzerinnen, Polizisten und
Taxifahrer. Leute, die, wie der Autor sagt, „neben ihrer eigentlichen
Tätigkeit die Rolle von Sozialarbeitern annehmen, die sich für die
Zipperlein ihrer Klientel mitverantwortlich fühlen.“ Am Mittwochabend sitzt
Nagelschmidt auf der Bühne vom Festsaal Kreuzberg, neben ihm der Verleger
Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag, der in seiner Begrüßung bedauert,
nicht Nagelschmidts Verleger zu sein. (Das Buch erscheint bei S. Fischer.)
Die Buchpremiere von „Arbeit“ findet pandemiebedingt ohne Livepublikum
statt und wird gestreamt.
Die beiden Männer sitzen zwischen menschenhohen Topfplanzen und rot-blau
leuchtenden Neonstäben; die Bühne sieht aus wie ein von Douglas Sirk (oder
Rainer Werner Fassbinder) eingerichteter Kunstwald. Also gut. Sie trinken
Grand Plaisir, laut Autor der „günstigste Champagner am Karstadt
Hermannplatz“. Sundermeier ist begeistert vom Buch, und wie es sich für
normales Bühnengeplapper gehört, versichert er, sein Lob sei kein „normales
Bühnengeplapper“. Aber Nagelschmidts Buch, aus dem der Autor zwei
großartige Passagen vorliest, spricht ja für sich selbst.
In der ersten geht es um Tanja und Tarek, zwei Rettungssanitäter, die, wie
alle Figuren in „Arbeit“, Nachtschicht schieben. Herzinfarkt, Atemnot,
Abhängige mit eitrigen Armen, dazwischen Chili Cheese Fries am Kiosk. In
der zweiten geht es um Heinz-Georg Bederitzky, ursprünglich aus Halle
(Saale), jetzt Taxifahrer in Berlin. Hin und wieder fährt er Leute zum Soho
House, dem Luxushotel in der Torstraße, in dessen Gebäude, wie Nagelschmidt
nebenbei schreibt, davor das Institut für Marxismus-Leninismus war, und
davor das Haus für die Reichsjugendführung der Nazis, und davor ein
jüdisches Kaufhaus. Auch eine Geschichte der Stadt.
Bederitzky hat „nichts auf der Naht, keinen müden Pfennig“, und Tanja will
von ihrer Arbeit „nichts mit nach Hause nehmen“. Es ist kein allwissender
Erzähler, der so spricht, Nagelschmidt nimmt die Sprache der Figuren an. Er
sei „bekennender Autodidakt“, sagt er, wisse nichts von Plotting und
Post-its, und hat sich auch die Sprache seiner Figuren durch
Recherchearbeit, Interviews und Selbstversuche, zum Beispiel als
Hostel-Rezeptionist, angeeignet.
Drei der von ihm interviewten Rettungssanitäter treten in einem kurzen Clip
auf, der in der Mitte der Lesung gezeigt wird, sprechen darin vom Autor als
„liebem Kauz“, der sich vor allem für ihre Floskeln interessiert habe. Die
informellen Begegnungen, sagt Nagelschmidt, waren die wichtigsten, die
beiläufig beobachtete Street-Smartness, die ihm ein Gefühl für seine
Figuren gab, das sich anzulesen unmöglich gewesen wäre.
Zwischen Nagelschmidt und Sundermeier und dem Gewächs steht ein Telefon.
Eine Nummer wird eingeblendet, und wenn man die Nummer anruft und
„durchkommt“, ist man im Studio zu hören, leider mit leichter Latenz –
„falls Thorsten schmutzige Wörter sagt“ –, was dazu führt, dass die ers…
Gespräche über zeitverzögerte Ratlosigkeit kaum hinauskommen.
Eine Anruferin wird von Nagelschmidt schnell identifiziert: „Ich glaube,
das ist meine Mutter“, sagt er. „Darf man noch eine Frage stellen?“, fragt
Frau Nagelschmidt. „Ja“, sagt Sundermeier. „Eine Frage stellen wollte ich
gar nicht“, sagt sie dann. „Ich wollte einfach gesagt haben, dass ich ganz
stolz auf Thosten Nagelschmidt bin. Könnten Sie ihm das ausrichten?“ Ja,
sagt Sundermeier, wird gemacht. Wäre der Festsaal nicht menschenleer, es
gäbe ein gerührtes Raunen.
Dieser Moment ist die letzte Bestätigung dafür, wie sehr das Konzept der
interaktiven Livestream-Lesung hier aufgegangen ist. Was für einen guten
Abend man vor dem eigenen Endgerät haben kann, wenn ein guter Moderator mit
einem guten Autor über ein gutes Buch spricht.
4 May 2020
## AUTOREN
Jan Jekal
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