# taz.de -- Rassistische Kontinuität | |
> Der Fall Lindenstraße zeigt: Bremen hat sich noch lange nicht aus dem | |
> rassistischen Denken des Kolonialismus gelöst. Wenn das Land so | |
> weitermacht, wird es mit der versprochenen Aufarbeitung kaum | |
> hinterherkommen. Anmerkungen zu einem zukünftigen postkolonialen | |
> Erinnerungskonzept aus aktuellem Anlass | |
Bild: Die Möglichkeit, den eigenen Körper zu schützen, sollte jedem gegeben … | |
Ein Gastkommentar von Fatoş Atali-Timmer, Silke Betscher, Sabine Broeck, | |
Christiane Falge, Andreas Fischer-Lescano, Nurhak Polat und Ayla Satilmis | |
Bremen hat sich einem kritisch-reflektierten Umgang mit der kolonialen | |
Vergangenheit verpflichtet. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, das | |
Zusammenwirken unterschiedlicher Akteur*innen und Institutionen ebenso wie | |
die legitimatorische Basis der kolonialen Praxen aufzuarbeiten. Eine erste | |
Gesprächsrunde mit zahlreichen Gruppen und Akteur*innen aus der | |
Zivilgesellschaft hatte 2016 zum Ergebnis, „dass das bloße Erinnern an | |
vergangene Ereignisse nicht eine schnell abzuarbeitende und damit | |
abzuschließende Aufgabe ist, sondern ein kontinuierlicher Prozess in der | |
Gegenwart mit dem Ziel, Rassismus abzubauen“. Nun zeigt ein Blick auf die | |
jüngere Geschichte Bremens und die Ereignisse rings um die | |
Erstaufnahmeeinrichtung in der Lindenstraße in Bremen-Vegesack, dass es | |
auch lange nach dem Ende der geschichtswissenschaftlich bezeichneten Phase | |
des Kolonialismus staatliche Praxen gab und gibt, die nur im Kontext von | |
Rassismus zu verstehen sind. Diese – Handeln und Nicht-Handeln | |
gleichermaßen – sind immer begleitet von Diskursen, die sie ermöglichen und | |
legitimieren. | |
Am 7. Januar 2005 starb Laye Alama Condé an den Folgen der | |
Brechmittelfolter in Polizeigewahrsam, die bis dahin über 13 Jahren lang in | |
Bremen gegen schwarze Menschen angewendet worden war, die des Verstoßes | |
gegen das Betäubungsmittelgesetz bezichtigt wurden. Die „weiß“-bürgerlich | |
dominierte Stadtgesellschaft war bereit, im vollen Wissen der Gefahren | |
dieser Methode den Tod von schwarzen Menschen billigend in Kauf zu nehmen, | |
um ihr Verständnis und ihr System von Recht und Ordnung durchzusetzen. – Es | |
ist kein Fall bekannt, in dem Brechmittelfolter gegen „weiße“ Menschen | |
angewandt worden wäre. | |
In der Gottlieb-Daimler-Straße wurden von 2016 bis 2018 junge Geflüchtete | |
untergebracht, denen das Jugendamt unterstellt hatte, falsche Altersangaben | |
gemacht zu haben. In kleinen Gruppen wurden die jungen Menschen | |
(überwiegend aus Ländern des afrikanischen Kontinents migriert) zur | |
medizinischen Altersfestsetzung nach Münster verbracht, wo ihre Körper von | |
„weißen“ Medizinern inspiziert, vermessen und ihnen ein Alter zugewiesen | |
wurde. Dies erinnert fatal an kolonialrassistische Vermessungsmedizin. | |
Diejenigen, die Widerspruch gegen das Ergebnis der wissenschaftlich nicht | |
validierbaren Altersfestsetzung einlegten, wurden monatelang am Rande der | |
Stadt in Leichtbauzelten unter menschenunwürdigen Bedingungen | |
untergebracht. | |
Diskursiv begleitet und legitimiert wurde diese Praxis unter anderem mit | |
dem Verweis auf das Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Das Vorgehen war freilich | |
nicht alternativlos: So wäre es auch denkbar gewesen, den Jugendlichen zu | |
glauben, oder aber entsprechend dem 15. Kinder- und Jugendbericht der | |
Bundesregierung anzuerkennen, dass der Prozess des Erwachsenwerdens mit | |
Erreichen des 18. Lebensjahres nicht abgeschlossen ist. Damit hätten die im | |
Jugendhilferecht verankerten Hilfen für junge Volljährige (§41 SGB VIII) | |
angewendet werden können. Es wäre also möglich gewesen, im Sinne der jungen | |
Menschen zu handeln, die oftmals aus Ländern migriert sind, die nach wie | |
vor unter den Folgen des Kolonialismus leiden. | |
Jüngstes Vor-Corona-Beispiel für rassistische Praxen, die in einem | |
Ermöglichungsraum aus Einstellungen, Diskursen und Verantwortungsdiffusion | |
entstehen, ist die Umverteilung eines unbegleiteten Minderjährigen aus | |
Gambia in Handschellen und Boxershorts nach Brandenburg im Januar dieses | |
Jahres. Kein Einzelfall – erst im Oktober 2019 war mit einem Jugendlichen | |
aus Guinea ebenso verfahren worden. Auch diese Praxis wurde von der Behörde | |
mit der Durchsetzung geltenden Rechts legitimiert, die | |
UN-Kinderrechtskonvention, die behördliches Handeln „in the best interest | |
of the child“ vorschreibt, ignorierend. Gerade rechtzeitig zur zweiten | |
„Umverteilung“ im Januar hat die Sozialbehörde eine Verwaltungsanweisung | |
erlassen, die das behördliche Vorgehen bei diesem Verstoß gegen | |
internationales Recht und den Geist der Jugendhilfe beschreibt. Ihr Zweck | |
ist, dem Ganzen durch bürokratische Kleinschrittigkeit einen legalistischen | |
Nimbus zu verleihen. Auch hier wird der kolonial-rassistische Bezug | |
sichtbar, wenn man sich klar macht, dass diese Jugendlichen mit ihrer | |
Entscheidung, Bremen und damit ihre sozialen Bezüge und emotionalen | |
Bindungen nicht verlassen zu wollen, eigentlich genau ein Ziel der | |
Jugendhilfe erfüllt haben, nämlich das eigene Leben selbstverantwortlich | |
und aktiv zu gestalten. Ihr einziger „Fehler“: Sie hatten die falsche | |
Staatsangehörigkeit und wurden somit in die Gruppe der „non citizens“ | |
sortiert, für die offensichtlich andere Maßstäbe und weniger Rechte gelten. | |
Die kolonial-rassistischen Kontinuitäten zeigen sich deutlich, wenn man | |
sich bildlich vergegenwärtigt, was hier geschehen ist: Es ist der | |
gefesselter Körper von Minderjährigen, die ihrer Rechte beraubt von | |
„weißen“ Erwachsenen, mit Macht ausgestatteten Polizist*innen und | |
Jugendamtsmitarbeiter*innen quer durch die Republik gefahren werden. Vor | |
allem aber: Hier wird der staatlich legitimierte Raub an Würde konkret an | |
diesem jungen Körper praktiziert. | |
Nehmen wir das Anliegen des postkolonialen Erinnerungskonzeptes, Rassismus | |
abzubauen, beim Wort, so lässt auch der Umgang der Bremer Politik mit der | |
Landesaufnahmestelle in der Lindenstraße in Bremen-Vegesack einigen | |
Handlungsbedarf offenkundig werden: Bereits zu Beginn der Pandemie haben | |
die Bewohner*innen der Lindenstraße dafür gekämpft, sie zu evakuieren und | |
sie nicht der kaum vermeidbaren Ansteckung mit Covid-19 zu überlassen. | |
Woche für Woche sind ihre Forderungen nicht nur übergangen worden, sie | |
mussten sich von der Sozialbehörde sogar anhören, dass die Unterbringung | |
dort schon ganz in Ordnung sei, obwohl es offenkundig ist, dass Physical | |
Distancing nicht möglich ist. Die aktuellen Ansteckungszahlen belegen dies. | |
Inzwischen liegt die Ansteckungsrate in der Lindenstraße bei über 33 | |
Prozent. | |
Es ist an Zynismus kaum zu überbieten, dass statt einer umgehenden | |
Evakuierung des Lagers und der getrennten Unterbringung der noch nicht | |
Infizierten nun als Verbesserung angekündigt wird, dort zukünftig | |
psychologische Hilfe anzubieten. Doch auch dass Gewalt und Ignoranz in | |
Paternalismus gekleidet werden, hat koloniale Tradition. Die Menschen, die | |
in der Lindenstraße leben, kommen in den offiziellen Verlautbarungen gar | |
nicht als selbstbestimmte Subjekte vor. Vielmehr werden sie wahlweise als | |
zu umsorgende oder zu kontrollierende Gruppen und Kollektive dargestellt. | |
Dass die verantwortliche Sozialsenatorin die durch unterlassene | |
rechtzeitige Evakuierung herbeigeführten massenhaften Infektionen nun | |
forsch „für Virologen interessant“ befindet, hat einen ganz besonderen | |
Beigeschmack. | |
Denn auch ein solcher Blick auf „Seuchenherde“ hat koloniale Tradition. Die | |
gesamte Geschichte der Tropenmedizin und der Epidemiologie ist aufs Engste | |
mit dem Kolonialismus verbunden. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der | |
Person Robert Kochs, der Menschenexperimente an kolonialisierten Menschen | |
des afrikanischen Kontinents durchführte. | |
Die koloniale Vergangenheit ist ebenso wie die Ereignisse der Gegenwart nur | |
zu verstehen, wenn man den Zusammenhang, die Kooperation und | |
vielschichtigen Beziehungen unterschiedlicher Akteur*innen und Disziplinen | |
in den Blick nimmt. Auch in der Vergangenheit ging es um weit mehr als um | |
das Sammeln von Museumsgegenständen. Diese waren ein willkommener | |
Nebeneffekt des Kolonialismus und materieller Ausdruck sich herausbildender | |
rassistischer Wissensformationen über die „Anderen“. Ein „Wissen“, das… | |
Hilfe dieser Gegenstände popularisiert wurde. Es diente dazu, die | |
Etablierung unterschiedlicher Kategorien von Menschen mit unterschiedlichen | |
Rechten als Voraussetzung für Ungleichheits-, Unterdrückungs- und | |
Ausbeutungsverhältnisse zu legitimieren. | |
Der Blick zurück lässt die Praxen der Brechmittelfolter, der willkürlichen | |
Altersfestsetzung, der Unterbringung in menschenunwürdigen Lagern und die | |
Verschleppung von Jugendlichen in Handschellen als Praxen und Wissensformen | |
mit kolonial-rassistischen Kontinuitäten deuten, innerhalb derer Politik, | |
(Sozial-)Behörden, Polizei, Justiz, Medizin und Medien kooperierten und das | |
Vorgehen als notwendig und legitim darzustellen versuchen. Gegenwärtig geht | |
es darum zu verstehen, welche Denk- und Wissensmuster, welche | |
vermeintlichen, weil diskursiv erzeugten Notwendigkeiten im Festhalten an | |
der Erstaufnahmeeinrichtung Lindenstraße (auch in und trotz Coronazeiten) | |
konkretisiert werden. Auch hier wird das Messen mit zweierlei Maß Grundlage | |
eines Handelns, das Menschenleben sehenden Auges gefährdet und das – | |
wichtig, uns das immer wieder zu vergegenwärtigen – nicht alternativlos | |
ist. | |
Zukünftig kann nicht mehr einfach über die lang zurückliegenden | |
Verflechtungen Bremens in koloniale sowie rassistische Praxen und deren | |
Aufarbeitung diskutiert werden. Soll dieses Anliegen glaubwürdig sein, muss | |
es die Ereignisse der vergangenen Jahre und Wochen einbeziehen, muss es das | |
zeitgenössische Handeln von politisch Verantwortlichen ebenso in den Blick | |
nehmen. | |
Wenn jemand bislang dachte, man könne mit einem postkolonialen | |
Erinnerungskonzept eine historische Schuld bearbeiten, die entlastend weit | |
zurück liegt, dann wird gegenwärtig klar, dass es sich hier auch aus einer | |
postkolonialen Perspektive um eine Schuld handelt, die Stunde für Stunde | |
mit jeder potenziellen oder erfolgten Ansteckung zunimmt. Es wird in | |
Post-Coronazeiten nicht ohne Weiteres möglich sein, weiter an einem | |
postkolonialen Erinnerungskonzept zu feilen, das ferne Vergangenheiten | |
aufarbeiten möchte. Es steht zu erwarten, dass auch in diesem Fall nicht | |
nur Aufklärungsarbeit, sondern vor allem massiver Widerstand nötig sein | |
wird, damit die „weiße“ Mehrheitsgesellschaft das, was hier geschieht, als | |
das anerkennt und benennt, was es ist: Rassismus. | |
2 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Fatoş Atali-Timmer | |
Silke Betscher | |
Sabine Broeck | |
Christiane Falge | |
Andreas Fischer-Lescano | |
Nurhak Polat | |
Aylat Satilmis | |
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