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# taz.de -- „Weg mit den Gespenstern“
> Der italienische Schriftsteller Paolo Giordano über nackte Zahlen,
> Schlafmangel und das Ansehen der Wissenschaft seit Corona
Bild: Menschen stehen Abstand haltend in der Schlange vor einem Supermarkt
Interview Gloria Reményi
Es kommt vor, dass Paolo Giordano komplexe Zahlenfolgen einfallen. Ein
„Trick, die Angst in Schach zu halten“, schreibt der 38-Jährige in seinem
neuen Essay „In Zeiten der Ansteckung“. Darin setzt er sich mit dem
Ausbruch der Coronapandemie auseinander und beginnt seine Betrachtungen mit
Mathematik.
taz: Paolo Giordano, Mathematik sei ein Instrument, um „Vorahnungen und
Befürchtungen abzuschütteln“, schreiben Sie. Und stellen fest, dass seit
Beginn der Pandemie die Zahlen teilweise beschuldigt werden, „Panik zu
verbreiten“. Warum?
Paolo Giordano: Nackte Zahlen tragen keine Schuld an der sich verbreitenden
Panik, sie sind aseptisch, also leidenschaftslos. Was Angst auslöst, ist
ihre falsche Deutung.
Wo lag der Deutungsfehler am Anfang von Corona?
In der Annahme, die Entwicklung der Ansteckung sei unvorhersehbar. Ab Ende
Februar mussten wir in Italien zusehen, wie die Anzahl der Neuinfektionen
täglich anstieg. Dieses Wachstum wurde oft mit „außer Kontrolle“
bezeichnet. Den Ausdruck benutzten viele Medien in ihren Schlagzeilen. In
Wirklichkeit war es exponentielles Wachstum, wie man es von der Entwicklung
einer Epidemie erwarten kann. Diese Erkenntnis macht die Zahlen zwar nicht
weniger dramatisch, doch so begreifen wir, dass das, was gerade passiert,
nichts Geheimnisvolles ist. Nur so können wir unsere Angst der Situation
angleichen und uns realistischen Erwartungen zuwenden. Wenn man die Zahlen
hingegen falsch interpretiert, läuft man Gefahr, das Unmögliche zu
erhoffen, wird enttäuscht und entmutigt. Was wiederum Panik erzeugt.
Nicht alle verfügen über das nötige Wissen, um Zahlen und Kurven
einzuordnen.
Richtig. Deshalb müssen Zahlen anschaulich erklärt werden. Das ist umso
wichtiger im Kontext einer Epidemie, denn dabei ist transparente
Information eine Art von Prophylaxe. Wer gut informiert und aufgeklärt ist,
kann sich besser schützen und zur Eindämmung der Epidemie beitragen.
Wiederum ist auch der Zugang zu Informationen nicht für alle gleich. Zu oft
hat man in dieser Krise gedacht, ein Tweet würde alle erreichen, aber in
Wirklichkeit geht es nur um einen begrenzten Teil der Bevölkerung. Jetzt
ist es hingegen besonders wichtig, alle zu erreichen.
Wer ist in der Verantwortung, Erklärungen zu liefern? Wissenschaft oder
Politik?
In der Regel können Wissenschaftler*innen nicht gut kommunizieren. Das
macht eine Vermittlung der Wissenschaft unabdingbar. Außerdem sind
Wissenschaftler*innen Experten nur in einem kleinen und oft
hyperspezialisierten Bereich. Zum spezifischen Bereich kann ein*e
Wissenschaftler*in Erklärungen liefern. Alle „Mosaiksteine“
zusammenzufügen, sodass sich die darin enthaltenen Informationen
miteinander verzahnen, und sie der Bevölkerung verständlich zu übermitteln,
ist Aufgabe der Politik.
Und wie verhalten sich da Politiker*innen?
Ich kann nur für Italien sprechen. Dort hat die Kommunikation der
politischen Institutionen meiner Meinung nach versagt. Informationen und
Erklärungen werden bruchstückhaft auf verschiedenen Kanälen vermittelt, mal
in Interviews, mal in Talkshows, mal in Tweets, mal in Pressekonferenzen
und mal in den Mitteilungen. Auch die Medien haben eine Weile gebraucht, um
sich da anzupassen, und ich selbst, mit meinem Hintergrund als
Wissenschaftler, muss mir große Mühe geben, Informationsfragmente zu
sammeln und mir daraus ein organisches Bild zusammenzustellen.
Gerade werden Wissenschaftler*innen von der Politik verstärkt zu Rate
gezogen. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Noch nie haben die Wissenschaftler
so wenig geschlafen.“ Denken Sie, dass die Erfahrung der Krise der
Wissenschaftsfeindlichkeit mancher Politiker ein Ende setzen könnte?
Das ist momentan ein großes Dilemma. Mein Buch und alle Artikel (für
„Corriere della Sera“, Anm. d. Red.) habe ich geschrieben, weil ich der
Meinung bin, dass diese Krise nicht vorübergehen sollte ohne Veränderungen.
Es muss sich etwas ändern. Dazu zählt die Aufwertung von Kompetenz. Das
würde die Wissenschaft zwar nicht für die massiven finanziellen Kürzungen
oder für die Marginalisierung, Delegitimierung, ja gar Demütigung
entschädigen, der sie sehr lange in Italien ausgesetzt war. Immerhin wäre
das eine wichtige Lehre aus dem Leid, das wir gerade erfahren. Doch diese
Veränderungen zu erhoffen und daran zu glauben, dass sie eintreten, sind
zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich fürchte, wir werden danach zum Stand von
vor der Krise zurückkehren.
Warum?
In Italien hören wir zwar gerade oft Politiker*innen sagen: ‚Lass uns
Experten fragen‘, ‚die Experten werden uns das erklären‘, ‚lass uns die
Meinung der Experten abwarten‘. Solche Aussagen kommen mir nicht als
Zeichen des Vertrauens in die Wissenschaft vor, sondern eher als Versuch
der Politik, sich mit der eigenen Verantwortung hinter der Wissenschaft zu
verstecken.
Die Sprache der Wissenschaft wird von der italienischen Politik kaum
benutzt. Bevorzugt werden Kriegsmetaphern. So ist oft etwa von „vorderster
Front“ oder dem „unsichtbaren Feind“ die Rede. Was halten Sie von
Politiker*innen, die dem Virus den Krieg erklären?
Ich kann nachvollziehen, dass es Analogien mit einer Kriegssituation gibt,
was den Ausnahmecharakter der aktuellen Lage und die Erfahrung des Todes
angeht. Gleichzeitig ist der Pandemiekontext ein ganz anderer. Auf ihn
angewandt, ist die Kriegsmetapher insofern eine unangebrachte sprachliche
Verkürzung. Zum einen finde ich sie respektlos gegenüber denjenigen, die
den Krieg erlebt haben. Zum anderen halte ich sie für gefährlich. Denn mit
der Anwendung von kriegerischer Sprache werden auch andere Gespenster
wachgerufen, etwa Gewalt und Autoritarismus. In einer prekären Zeit wie
dieser, in der Gleichgewichte schnell verschoben werden, wäre es weise,
Gespenster der Vergangenheit entschieden fernzuhalten.
Sehen Sie da eine konkrete Gefahr?
Sprache schafft die Realität, in der wir leben. Das Beharren auf
Kriegsvokabular wird diese Realität irgendwann wahr werden lassen oder sie
zumindest rechtfertigen. Zudem hat uns diese Epidemie klar gezeigt, dass
die Grenze zwischen Anzeichen einer Bedrohung und konkreter Gefahr
schwammig sein kann. So war auch die Bedrohung des Virus noch im Januar
schleichend, nun ist sie da. Politisch gesehen bewegt man sich zum Beispiel
in Ungarn schon an dieser Grenze.
Die extrem rechte Lega in Italien verzeichnet momentan hingegen einen
Abwärtstrend, während die Beliebtheit von Ministerpräsident Giuseppe Conte
steigt.
Trotzdem fürchte ich, dass bald eine Phase hoher Verletzlichkeit gegenüber
rechtspopulistischen und nationalistischen Einflüssen eintreten könnte.
Denn diese Bewegungen sind darin besonders erfolgreich, Gefühle wie Angst
und Leid durch massive Vereinfachung zu manipulieren. Dass die Regierung
(gebildet aus der gemäßigt linken Partito Democratico und den
populistischen Fünf Sternen, Anm. d. Red.) sich gerade wachsender
Beliebtheit bei der Bevölkerung erfreut, hat meiner Meinung nach nur mit
der aktuellen Notlage zu tun. Es ist nicht überraschend, dass man erst mal
dazu tendiert, sich hinter die zu stellen, die schon am Ruder stehen.
27 Apr 2020
## AUTOREN
Gloria Reményi
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