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# taz.de -- „Weil sie sich schämen“
> Im westlichen Niedersachsen sind immer mehr Frauen obdachlos. Bei
> Trennungen ziehen sie meist den Kürzeren. Ausschlaggebend ist das
> Rollenverhalten von Mann und Frau
Bild: So sichtbar sind Frauen ohne Obdach nicht immer: Viele verbergen es
Interview Milena Pieper
taz: Herr Brockmann, wieso ist die Zahl der wohnungslosen Frauen in
Niedersachsen angestiegen?
Mark Brockmann: Wir haben schon immer vermutet, dass Frauen rund 20 Prozent
der Wohnungslosen ausmachen. Die Zahlen zeigen nun: Die Gesamtzahl der
Wohnungslosen ist gestiegen und die der wohnungslosen Frauen auch.
Aber woran liegt das?
Die Wohnungsmarktsituation wird immer schlimmer und auch Frauen, die bisher
in prekären Wohnverhältnissen unterschlüpfen konnten, verlieren den letzten
Strohhalm, an den sie sich geklammert haben. Und wenn Frauen ihre Wohnung
verlieren, verlassen sie oft gleich ihr ganzes Umfeld, weil sie sich
schämen. Die meisten zieht es dann in die Anonymität der größeren Städte.
Gerade in Oldenburg und Osnabrück ist der Anteil wohnungsloser Frauen hoch.
Bedeutet der von der Zentralen Beratungsstelle Niedersachsen erfasst
Anstieg der Zahlen denn auch, dass tatsächlich mehr Frauen auf der Straße
landen?
Die Dunkelziffer dürfte groß sein, denn Frauen können ihre
Wohnungslosigkeit oft eher geheim halten als Männer. Viele Frauen kommen
bei sogenannten Bekannten unter, aber das kann für sie sehr problematisch
sein. In der Beratung habe ich oft erlebt, dass Frauen von sexuellen
Übergriffen bei Übernachtungsmöglichkeiten berichten und Gegenleistungen
von ihnen verlangt werden.
Aber wenn viele Frauen woanders unterkommen, wie ermitteln Sie dann die
Zahlen?
Die Wohnungslosenzahlen, die wir veröffentlicht haben, beschreiben
ausschließlich Kontakte mit Beratungsstellen der Wohnungslosenhilfe. Wir
haben keine Zahlen von städtischen Unterbringungen oder von der Straße,
also, wir haben nicht wie in Berlin alle Wohnungslosen gezählt. Dass es
eine Dunkelziffer gibt, ist unbestritten.
Sind Frauen beim Thema Wohnungslosigkeit speziellen Risiken ausgesetzt?
Sind Frauen alleinstehend, sind sie denselben Risiken ausgesetzt wie
Männer: der Abwärtsspirale nach einem Jobverlust, Suchtproblematiken oder
psychischen Problemen. Aber die Abhängigkeit vom Partner ist ein großes
Risiko. Viele Frauen leben in Untermietverhältnissen oder ohne Mietvertrag
bei ihrem Partner. Bei Trennungen sind sie meist die Nottragenden, und wenn
es zu schwierigen Situationen kommt, ist es eher die Frau, die rausgeworfen
wird – allein wegen der körperlichen Kraft der Männer. Das Rollenverhalten
zwischen Mann und Frau ist auch heute ausschlaggebend.
Haben die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus etwas an der Lage der
Frauen verändert?
Es ist schwierig. Wir können derzeit nur auf Beobachtungen der Praktiker
und das gefühlte Erleben in den Einrichtungen zurückgreifen, nicht auf
verlässliche Zahlen.
Und was hören Sie da?
Viele Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe oder unterstützende
Einrichtungen haben quasi einen Aufnahmestopp erlassen, weil sie die
Bedingungen für die geforderte Quarantäne für Neuaufnahmen nicht erfüllen
können. Andere erste Anlaufstellen haben veränderte Nutzungszeiten und
fallen teilweise für die Erstberatung weg. Deswegen gehen wir davon aus,
dass sich Frauen, die in schwierigen Verhältnissen leben, derzeit noch
schwerer damit tun, aus diesem Umfeld auszubrechen. Sie halten es länger
aus, bevor sie sich einer Beratungsstelle anvertrauen, weil die
Alternativen noch übler sind oder noch übler scheinen.
Gibt es auch Positives?
Es gibt derzeit mehr Notfallregelungen bei Kommunen und Ämtern, sodass in
vielen Kommunen derzeit mehr Lösungen möglich scheinen. Verlässliche Zahlen
haben wir da leider nicht, und wir denken auch, dass es noch eine Weile
dauern wird, bis diese Fälle die Wohnungslosenhilfeeinrichtungen erreichen
und wir sie erfassen könnten. Nur weil man die Menschen derzeit nicht mehr
in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sieht, heißt das nicht, dass
sie nicht mehr da sind und ihre Probleme mit ihnen verschwunden sind.
Welche Probleme bringt die Wohnungslosigkeit für Frauen mit sich?
Viele Kommunen sind nicht auf die Unterbringung von Frauen eingerichtet.
Einige Kommunen reservieren zum Beispiel in einer Sammelunterkunft ein
Zimmer, aber die Frauen müssen dann trotzdem mit den anderen Bewohnern
zusammenleben. Teilweise gibt es keine separaten WCs und Waschräume. Die
Kommunen wollen, dass die Menschen nicht lange in den Unterkünften bleiben,
sondern sich schnell eine Wohnung suchen. Aber da sind wir ja wieder am
Anfang des Problems.
Welche Hilfsprogramme wären nötig, um Frauen zu unterstützen?
Getrennte Unterkünfte und spezifische Sprechzeiten für Frauen, damit diese
nicht im Wartebereich auf Männer treffen müssen. In Braunschweig gibt es
eine eigene Beratungsstelle für Frauen, aber es gibt in jeder Kommune
Optimierungsbedarf. Es braucht mehr Schutz vor Gewalt. Und besonders
wichtig ist, dass Frauen sich an Frauen wenden können. In den
Beratungsstellen hat sich das in den letzten Jahren gebessert. Mittlerweile
arbeiten dort viele Frauen.
29 May 2020
## AUTOREN
Milena Pieper
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