# taz.de -- tazđŸthema: âMut, uns zu Ă€ndernâ | |
> Immer mehr Waldorfschulen öffnen sich der Inklusion â und stehen dabei | |
> vor besonderen Herausforderungen. An Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten | |
> mangelt es nicht | |
Bild: Etwa 20 der 252 Waldorfschulen arbeiten explizit nach einem inklusiven Sc… | |
Von Katja-Barbara Heine | |
So bunt durchmischt wie vor hundert Jahren waren die Waldorfschulen | |
vermutlich nie wieder. Die allererste Einrichtung, 1919 als Betriebsschule | |
der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria in Stuttgart gegrĂŒndet, vereinte eine | |
groĂe kulturelle und soziale Vielfalt unter einem Dach: Arbeiterkinder | |
drĂŒckten neben dem Nachwuchs des BildungsbĂŒrgertums die Schulbank, Kinder | |
aller Entwicklungsstufen und Begabungen lernten gemeinsam, und bereits nach | |
einem Jahr wurde eine Art Integrationsklasse eingerichtet. | |
Von Inklusion sprach damals noch niemand. Heute ist die Praxis, bei der | |
Kinder mit und ohne sonderpÀdagogischem Förderbedarf (siehe Kasten) | |
gemeinsam unterrichtet werden, in aller Munde â auch an den Waldorfschulen: | |
âEtwa 20 der 252 Waldorfschulen arbeiten explizit nach einem inklusiven | |
Schulkonzept oder haben sich auf den Weg gemachtâ, sagt Nele Auschra, | |
Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen. WĂ€hrend einige bereits seit der | |
GrĂŒndung inklusiv arbeiten, haben andere begonnen, ihre Konzepte zu Ă€ndern | |
und Kinder mit besonderem Förderbedarf aufzunehmen. UnterstĂŒtzt und beraten | |
werden sie dabei von verschiedenen Projekten der Waldorfeinrichtungen, etwa | |
dem âArbeitskreis Inklusionâ. | |
Allerdings gibt es auch Waldorfschulen, die sich dem Thema nicht öffnen | |
möchten: âDas wird sich auf Dauer nicht halten lassenâ, sagt Nele Auschra. | |
âZum einen ist Inklusion ein Menschenrecht. Zum anderen sind die | |
KollegInnen, die unsere AusbildungsstÀtten verlassen, mit dem Thema | |
inzwischen so vertraut, dass sie es mit Nachdruck in die Schulen tragen | |
werden.â | |
An Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten mangelt es nicht: Am Institut fĂŒr | |
WaldorfpÀdagogik, Inklusion und InterkulturalitÀt der Alanus Hochschule in | |
Mannheim wird der Master-Studiengang âKlassenlehrer mit | |
InklusionspĂ€dagogikâ angeboten. Das Seminar fĂŒr WaldorfpĂ€dagogik Hamburg | |
bietet seit zwei Jahren eine Zusatzqualifizierung zum InklusionspÀdagogen | |
fĂŒr Studierende und tĂ€tige PĂ€dagogen an. Und auch eine Fortbildung per | |
berufsbegleitendem Onlinekurs ist möglich. | |
âDie WaldorfpĂ€dagogik bietet eine gute Grundlage fĂŒr die Entwicklung einer | |
inklusiven PĂ€dagogikâ, so Nele Auschra. âIm Vordergrund steht die | |
Entfaltung des Einzelnen und nicht das Erreichen eines normierten Ziels.â | |
Rudolf Steiner sagte 1919 in einem Vortrag vor zukĂŒnftigen Lehrern: âNicht | |
gefragt werden soll: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können fĂŒr die | |
soziale Ordnung, die besteht? Sondern: Was ist im Menschen veranlagt und | |
was kann in ihm entwickelt werden?â Und in einem seiner AufsĂ€tze heiĂt es: | |
âDie Waldorfschule [...]wird eine Einheitsschule sein in dem Sinne, dass | |
sie lediglich darauf RĂŒcksicht nimmt, so zu erziehen und zu unterrichten, | |
wie es der Mensch, wie es die menschliche Gesamtwesenheit erfordert.â | |
âJede Schule hat beim Thema Inklusion ihr ganz eigenes Konzept und ihre | |
individuelle Umsetzungâ, beobachtet Ulrike Barth, Juniorprofessorin fĂŒr | |
Heil- und InklusionspÀdagogik an der Alanus Hochschule. Eine | |
Herausforderung teilen sie jedoch alle: Die Finanzierung des inklusiven | |
Schulsystems orientiert sich an einem von staatlicher Seite anerkannten | |
Sonderförderbedarf, also dem offiziell festgestellten âDefizitâ der | |
SchĂŒler. âInklusion heiĂt jedoch eigentlich, gerade keine Kategorisierung | |
vorzunehmenâ, so Ulrike Barth. âJedoch haben wir in Deutschland das | |
âEtiketten-Ressourcen-Dilemmaâ: Wenn eine Schule sich auf den inklusiven | |
Weg macht, braucht sie eine entsprechende Ausstattung. Diese bekommt sie | |
nur ĂŒber die âsonderpĂ€dagogische Bedarfsregelungâ. Da Waldorfschulen | |
generell schlechter finanziert werden, haben sie natĂŒrlich auch ein noch | |
gröĂeres Problem in der Finanzierung einer inklusiven Schule.â | |
In der Freien Waldorfschule Kreuzberg etwa, die beim Thema Inklusion seit | |
vielen Jahren eine Vorreiterrolle einnimmt, existieren zwei Schulen | |
nebeneinander â allerdings nur auf dem Papier. âDie Kinder sind | |
verwaltungsmĂ€Ăig getrennt. Jene, bei denen ein Förderbedarf festgestellt | |
wurde, sind auf der Förderschule, die anderen auf der Regelschuleâ, sagt | |
Sonderschulleiterin Marion Stettiner. âDie Kinder wissen davon aber nichts | |
und werden in derselben Klasse unterrichtet.â Ihre Kollegin Anja Korpiun, | |
Lehrerin einer fĂŒnften Klasse fĂŒgt hinzu: âDas Feststellungsverfahren hat | |
mit der RealitĂ€t nichts zu tun. Kinder ohne âStempelâ brauchen hĂ€ufig | |
genauso viel Betreuung. Und auch sonderbegabte Kinder haben Förderbedarf.â | |
In jeder Klasse gibt es fĂŒnf bis sieben SchĂŒler, bei denen offiziell ein | |
Förderbedarf festgestellt wurde. Nur so bekommt die Klasse eine zweite | |
Lehrkraft sowie Schulhelfer und SonderpĂ€dagogen finanziert. âBei dem | |
Verfahren wird ausschlieĂlich auf das DefizitĂ€re geschaut, nicht auf das, | |
was das Kind wirklich brauchtâ, sagt Marion Stettiner. Beide Lehrerinnen | |
der Berliner Schule finden es kontraproduktiv und âgesellschaftlich höchst | |
peinlichâ, fĂŒr Zuwendungen von einer solchen Kategorisierungen abhĂ€ngig zu | |
sein. | |
Auch die inklusive Beschulung an sich stellt eine groĂe Herausforderung dar | |
und bietet den PĂ€dagogen viel Freiraum: âDurch die Notwendigkeit, | |
Entwicklung auch Kindern mit Förderbedarf zugÀnglich zu machen, kommt man | |
auf ganz neue Ideen, von denen letztendlich alle Kinder profitierenâ, so | |
Anja Korpiun. Ein Beispiel: Da eine SchĂŒlerin mit motorischen | |
EinschrÀnkungen einen Zirkel nicht bedienen kann, wurde das Instrument | |
erfahrbar gemacht, indem Kinder an einem Seil im Kreis gingen. âDie ganze | |
Klasse war begeistertâ, berichtet Anja Korpiun. Dass die Klassen in | |
familienÀhnlichem VerhÀltnis zwölf Jahre zusammen bleiben, ist ebenso eine | |
gute Voraussetzung wie die achtjĂ€hrige Klassenlehrerschaft. âNur weil ich | |
so nah an jedem Kind dran bin, kann ich feststellen, was es braucht und wie | |
ich seine Entwicklung unterstĂŒtzen kannâ, so die Lehrerin. | |
Maud Beckers, Dozentin am Seminar fĂŒr WaldorfpĂ€dagogik Hamburg, beobachtet, | |
dass zunehmend verhaltensauffÀllige und schwierige Kinder auf die | |
Waldorfschulen kommen. âWir reagieren darauf mit einer zunehmenden | |
Differenzierungstendenz und indem wir das pĂ€dagogische Personal erweitern â | |
durch Assistenten, HilfskrĂ€fte, Sonder-, Förder- und SozialpĂ€dagogen.â | |
Allzu viele Erwachsene im Klassenzimmer seien jedoch nicht die Lösung und | |
können im Unterricht störend sein. Inklusion erfordere vielmehr einen | |
Paradigmenwechsel: âUnser Ansatz am Hamburger Seminar ist deshalb eine | |
dynamische Diagnostik, die davon ausgeht, dass der Mensch nicht begutachtet | |
werden kann, sondern sich stetig entwickelt. Diese kann uns befÀhigen, mit | |
Verschiedenheit umzugehen und inklusive Prozesse zu gestalten, die uns | |
helfen, aus der Lehrerzentriertheit auszusteigen und neue Lernprozesse | |
zuzulassen. DafĂŒr brauchen wir keine groĂes Mehr an Personal. Wir brauchen | |
den Mut, uns zu Ă€ndern.â | |
14 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Katja-Barbara Heine | |
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