# taz.de -- Überall Nazis oder nicht? | |
> Der Schriftsteller Bov Bjerg stellte am Dienstag in der Kulturbrauerei | |
> seinen Roman „Serpentinen“ vor | |
Von Jan Jekal | |
Vielleicht gehört es zum Krankheitsbild eines depressiven Menschen, die | |
Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Sich ohne Nostalgie zu | |
erinnern und ohne irrationale Zuversicht in die Zukunft zu schauen. | |
Tröstliche Erzählungen, die eigene Person wie die ganze Welt betreffend, | |
nicht zu glauben, und die Welt ungefiltert, ohne Schutzschild, | |
wahrzunehmen. | |
Der Erzähler von Bov Bjergs neuem Roman, „Serpentinen“, ist in jedem Fall | |
so ein Mensch ohne Schutzschild. Ein Soziologieprofessor, der bei Gleisen | |
gleich an Deportationen denkt, bei der Autobahn an Hitler, der den Ausdruck | |
„Gas geben“ verabscheut. „Überall siehst du Nazis“, sagt seine Frau | |
missbilligend. „Nazis sind überall“, sagt er. Dagegen lässt sich nicht | |
argumentieren. | |
Sein Vater hat sich umgebracht, dessen Vater auch, dessen Vater auch, und | |
so geht es einige Generationen weiter. „An was ist Opa eigentlich | |
gestorben?“, fragt ihn sein Sohn auf einer Autofahrt. Sie fahren durch eine | |
süddeutsche Hügellandschaft, die Heimat des Erzählers, fahren die | |
Serpentinen in Schlangenlinien hoch und runter. Die Frage kann er nicht | |
beantworten, ohne zu lügen. Seine Lebensaufgabe ist es, die Schicksalskette | |
zu durchbrechen und sein Kind vor der Todessehnsucht der Väter zu bewahren. | |
Am Dienstagabend stellt Bjerg seinen Roman im Palais in der Kulturbrauerei | |
vor. Die Moderatorin, Kritikerin und Autorin Insa Wilke ist ein großer Fan | |
des Buchs, und das sind Moderatorinnen von Buchvorstellungen natürlich | |
grundsätzlich und zwingend, aber Wilke nimmt man die hohen Töne, in denen | |
sie „Serpentinen“ lobt, ohne Weiteres ab. Ihre Fragen sind gar keine, sind | |
eher Beobachtungen und Gedanken zu dem Buch, das sie offenkundig tief | |
berührt hat. | |
Fragen lassen sich nicht leicht formulieren, so vertrackt und | |
undurchdringlich sind die Themen, um die es in Bjergs Buch geht, um | |
Depression, Familie, Heimat und Erinnerung, und darum, ob es möglich ist, | |
sich von alldem zu befreien. „Geht es gut aus oder geht es nicht gut aus?“, | |
da war sich Bjerg, erzählt er, noch beim Schreiben lange nicht sicher. | |
Eine Figur, die den Gedanken nahelegt, dass es auch gut ausgehen kann, ist | |
Veronica, eine Kindheitsbekanntschaft des Erzählers, der er viele | |
Jahrzehnte nach dem Heranwachsen in der Provinz wiederbegegnet, zufällig, | |
in Kalifornien; es geht ihr gut. „Es war also möglich, sich zu befreien, | |
dachte ich“, liest Bjerg, von erkältungsbedingten Trinkpausen unterbrochen. | |
„Nicht nur in Romanen und Filmen und Songs, sondern auch im richtigen | |
Leben. Ich freute mich tagelang, eine ganz einfache, feministische, | |
sozialistische Freude. Eine ganz kindische Freude. Veronica hatte sich | |
befreien können von ihrem Vater, von ihrem Dorf und von Arschlöchern wie | |
mir.“ | |
Bjergs kleiner Twist ist, dass es sich bei Veronica aber ja doch um eine | |
Romanfigur handelt. Sie gibt kein überzeugendes Beispiel dafür ab, dass | |
eine Selbstbefreiung auch außerhalb der Sinnlogik einer guten Erzählung | |
möglich ist. Die Frage nach der Möglichkeit derselben bleibt unbeantwortet. | |
Bjerg schreibt fragmentiert, reißt Szenen an, erzählt sie nicht aus. Er | |
langweile sich schnell, sagt er, wenn er das Gefühl habe, von einer | |
Erzählung an die Hand genommen zu werden. Damit, unbequeme Fragen | |
unbeantwortet zu lassen, mute er seinem Publikum einiges zu, sagt Wilke. | |
„Ist es unmoralisch, die Dinge in der Schwebe zu lassen?“, fragt er. Wilke | |
sagt, dass es wohl notwendig sei. Eine zentrale Frage des Buchs sei nicht | |
zuletzt: Überall Nazis oder nicht? | |
Der Erzähler sieht sie überall, seine Frau glaubt, dass er spinnt. „Ist im | |
Moment eine relevante Frage“, findet Wilke. „In diesem Punkt“, sagt Bjerg, | |
„sind Erzähler und Autor identisch.“ | |
13 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan Jekal | |
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