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# taz.de -- nord🐾thema: Übernachten im Kollektiv
> Hostel, Kneipe und Café: In Lübecks früherem Rotlichtviertel in der
> Clemensstraße betreibt seit Mai vergangenen Jahres ein Kollektiv das
> „SchickSAAL*“. Bei der Einrichtung der Zimmer haben die Betreiber*innen
> Wert darauf gelegt, Andenken an die frühere Zeit zu erhalten. Auch ein
> Besuch zum vegetarischen Sonntagsbrunch lohnt sich
Bild: Nur wenige Gehminuten vom Hostel „SchickSAAL* „entfernt: der Museumsh…
Aus Lübeck Yasemin Fusco
Lilo hieß die letzte Prostituerte, die in der Clemensstraße 7 auf der
Lübecker Altstadtinsel arbeitete und lebte. Bis zum Jahr 2006, als das
letzte Bordell schloss, war die Clemensstraße quasi das Pendant zur in
Hamburg einschlägig bekannten Herbertstraße. Viele Prostituierte arbeiteten
hier. Nach Lilo zogen Drogensüchtige und ehemalige Gefangene als
Untermieter der Diakonie in die Hausnummer 7 ein. So erzählt es Johanna
Hotanen. „Jetzt ist das unser Haus“, sagt sie.
Die 54-jährige ist im südlichen Finnland geboren und lebt seit ihrem 14.
Lebensjahr in Deutschland, die meiste Zeit davon in Lübeck. Hotanen ist
Trainerin für Wendo, einer Selbstverteidigungsart für Frauen, in der es um
Selbstbehauptung geht. Als Trainerin will sie aber kürzer treten. Ihre
Energie will sie jetzt in ihr neues Projekt stecken. Gemeinsam mit zehn
weiteren Mitstreiter*innen hat Hotanen im Mai vergangenen Jahres das
kollektive Hostel „SchickSAAL*“ gegründet.
Das Hostel ist zentral in der Altstadt gelegen. Vom Holstentor, dem
Wahrzeichen der Stadt, kommend läuft man über die Travebrücke, die von
Lübecker*innen „MuK“-Brücke genannt wird, automatisch auf die Untertrave,
von da aus ist die enge Clemensstraße nicht mehr weit. An den Wochenenden
tummeln sich hier die Menschen.
„Der Grundsatz, der Kunde ist König, gilt bei uns nicht“, heißt es auf der
Webseite des Hostels in der Hausnummer 7. Ein wertschätzendes und sich
selbst reflektierendes Verhalten – egal zwischen wem – sei aber
unentbehrlich. „Das SchickSAAL* soll ein kreativer und lebendiger Ort für
lebensbereichernde Begegnungen auf der jeweiligen Reise sein – woher, wohin
und weshalb auch immer.“
An das frühere Rotlichtviertel und das Bordell erinnern heute noch kleine
Gegenstände und verbliebene Tapeten in dem Hostel. „Ein ehemaliges Bordell
eignet sich wegen der Raumaufteilung sehr gut für ein Hostel“, sagt eine
der Kollektivistas. Auch wenn viel Arbeit in das Haus gesteckt wurde, Ziel
war immer, möglichst viel von der alten Substanz zu erhalten. Das Alte
sollte mit den Menschen, die jetzt dort arbeiten und leben, neu belebt
werden.
Etwa 330 Quadratmeter hat der Altbau, verteilt auf vier Etagen. Es gibt ein
Einzelzimmer, mehrere drei-, vier- und Sechsbettzimmer und ein
LGBTQ*-Zimmer, in dem keine Cis-Männer erwünscht sind. Jedes Zimmer hat
einen persönlichen Charakter, jede*r der Kollektivistas wollte einen
eigenen Teil zur Gestaltung der Räume beitragen.
Auch Lilo hat hier wieder einen Platz gefunden. Das Zimmer unter dem Dach
wurde nach ihr benannt. In dem großen Raum kam bei den langen Renovierungs-
und Abtragungsarbeiten eine Bleistiftzeichnung zum Vorschein. Als sie durch
das Zimmer führt, nimmt Johanna Hotanen eine Lampe zur Hilfe und leuchtet
auf die Zeichnung im Ziegelstein. Zu sehen ist eine Frau im Profil. Sie
trägt einen Hut, sieht so aus, als habe sie im vorletzten Jahrhundert
gelebt. Im Kollektiv spekulieren sie, von wem das Bild gezeichnet wurde.
Vielleicht von einem ehemaligen Freier? Von einem Liebhaber? Hotanen
glaubt, dass ein armer Künstler eine Prostituierte mit dem Bild bezahlt
hat. Ein*e andere*r Kollektivista glaubt, ein Bauarbeiter könnte das Bild
beim Hausbau eingebaut haben. So oder so: Das museale Stück wird jetzt von
einer Glasscheibe geschützt.
Das Lieblingszimmer einer Kollektivista heißt „Smokey Eye“, ein
Sechsbettzimmer mit drei selbstgebauten Hochbetten. Teilweise wurde dafür
das alte Holz der Flurtreppe benutzt. Vorhänge sorgen dafür, dass die
Betten wie kleine Höhlen wirken. Die Treppen zu den oberen Betten sind
gleichzeitig die Regale der unteren Betten.
Das Zimmer „Die rote Prinzessin“ wurde von der städtischen Lokalzeitung so
genannt. Johanna Hotanen recherchierte anschließend nach einer roten
Prinzessin, wie sie erzählt. Sie fand ein Buch über eine russische
Prinzessin, das dort heute im Regal steht. Untertitel: „Ein revolutionäres
Leben“.
Das Hostel hat nur Gemeinschaftsbadezimmer, bis auf ein kleines, blau
gekacheltes im dritten Stockwerk. „Falls mal jemand für sich duschen will“,
sagt Hotanen. Und es sind Badezimmer für alle Geschlechter. Die Spülbecken
sind bunt in Pastellfarben gehalten. Die Duschen haben die Mitglieder des
Kollektivs selbst gebaut. Sogar an den Türgriffen ist zu sehen, wie
liebevoll jedes Detail ausgesucht wurde. Ein Türknauf ist beispielsweise
ein alter Telefonhörer.
Hotanen nennt ein weiteres Projekt, das sie mitgestaltet hat: eine
Bildercollage in der Gästeküche im Erdgeschoss. Viele Menschen sind dort zu
sehen, lose, gesammelte Fetzen aus Zeitschriften und Zeitungen,
Kreuzworträtseln, Naturmotiven, Architektur. Es ist ein buntes Bild, das
alle Emotionen auffängt, vor allem die positiven. Und über allem ragt ein
Grundriss des Hauses.
Im Erdgeschoss ist auch der Innenhof des Hauses, der allerdings noch nicht
fertiggestellt ist. Auch das gehört irgendwie zum Konzept des Hostels. Als
es im vergangenen Mai erstmals die Türen öffnete, waren nur drei der Zimmer
fertig. Seit Oktober können die restlichen sieben Zimmer bezogen werden.
Viele Betten, Sofas, Sessel und Schränke kauften die
SchickSAAL*-Gründer*innen von einem befreundeten Kollektiv zu günstigen
Konditionen. Das zusammengewürfelte Mobiliar fügt sich zu einem gemütlichen
Ganzen zusammen.
Das gilt auch für die zu dem Hostel gehörende Kneipe, die tagsüber ein Café
ist. Dort ist auch eine kleine Bühne aufgebaut, die abends manchmal für
kleine Konzerte, Vorträge und Lesungen genutzt wird. Tagsüber bietet sie
den Gästen eine gemütliche Sitzgelegenheit. Unter der Woche müssen sich die
Gäste selbst versorgen. Freitags und Samstags gibt es Frühstück im
SchickSAAL*, Sonntags wird ein großes Frühstücksbuffet mit vegetarischen
und veganen Lebensmitteln aufgebaut. Den Kaffee dafür liefert ein anderes
Kollektiv aus Hamburg, die Kartoffeln kommen von einem Biobauern, der auch
Menschen mit Behinderung beschäftigt. Jeden dritten Mittwoch im Monat gibt
es eine Küfa (Küche für alle), bei der die Kollektiv-Mitglieder für einen
geringen Preis ein mehrere Gänge beinhaltendes Menü kochen. Nach Angaben
der Betreiber*innen ist der Brunch so beliebt, dass sie Interessierten
mittlerweile raten, sich vorher anzumelden.
„Heute läuft sehr vieles schon sehr gut“, sagt Johanna Hortanen. „Trotzd…
brauchen wir mehr Gäste, damit sich das Hostel auch rechnet.“ Wenn Hostel,
Kneipe oder Café irgendwann einmal Überschuss erarbeiten, soll dieser an
für das Kollektiv wichtige Projekte gespendet werden, beispielsweise die
Flüchtlingshilfe. Alles dafür tun will das Kollektiv aber nicht und meldet
sich nicht bei den einschlägigen Reiseportalen an. „Wir halten das für
Geldmacherei“, sagt Hortanen. Das Hostel ist Mitglied im Verein Independent
Hostels of Germany. Daraus seien zwar noch nicht viele Vorteile entstanden,
aber das könne ja noch kommen, sagt Hortanen.
Vieles schien bei der Eröffnung des Hostels im Mai noch undenkbar. Gerade
erst hat das Kollektiv bei einem drei Tage dauernden Plenum darüber
gesprochen, wie Hierarchien erkannt und abgebaut werden können. Die Idee
des kollektivbetriebenen Hostels hatten Johanna Hortanen und ihr
Lebensgefährte. Die beiden sind in der Lübecker Szene gut vernetzt. Ihre
Mitstreiter*innen lernten sie teilweise während der gemeinsamen
freiwilligen Arbeit in der Geflüchtetenhilfe kennen. Einige Mitglieder des
Kollektivs leben, so wie Hortanen auch, im Lübecker Wohnprojekt „Freie
Hütte“.
Die Idee hinter SchickSAAL*: ein kollektivbetriebenes, queer-feministisches
und anarchistisches Projekt, in dem alle selbstbestimmt arbeiten. Der Lohn
richtet sich nicht nach Aufgaben oder Leistung, sondern nach persönlichem
Bedarf, orientiert am zeitlichen Aufwand. Ziel sei es, solidarisch
miteinander zu arbeiten, Verantwortungsbewusstsein für das Projekt mit
persönlicher Entfaltungsmöglichkeit so zu verbinden, dass der Betrieb gut
läuft und es allen Spaß macht. „Um Alltagstrott, Langeweile und
Unzufriedenheit von vornherein entgegenzuwirken, halten wir es für
hilfreich, wenn Aufgaben rotieren“, schreibt das Kollektiv in seinem
Statut. Alle Mitglieder des Kollektivs erhielten die Möglichkeit, immer mal
wieder andere Dinge zu übernehmen und auszuprobieren. Dazu gehört auch die
Reinigung der Toiletten oder der Gästeempfang.
SchickSAAL*: Hostel, Café, Kneipe und Kollektiv, Clemensstraße 7, Lübeck.
Hostel-Rezeption, Mo–Fr, ab 9Uhr. Bett im Mehrbettzimmer ab 18 Euro/Nacht
https://schicksaal.net
25 Jan 2020
## AUTOREN
Yasemin Fusco
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