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# taz.de -- Serie: Was von 2019 bleibt: Der Untergang von Hasankeyf
> Die antike Siedlung Hasankeyf ist 12.000 Jahre alt. Weil die AKP dort
> einen Staudamm gebaut hat, versinkt sie bald in den Gewässern des Tigris.
Bild: Hasankeyf wird voraussichtlich im Februar vom Tigris geflutet
Als letztes laden sie die Außenmauer einer 600 Jahre alten Moschee auf
einen Schwerlasttransporter. Seit 2017 wird die antike Siedlung Hasankeyf
in Südostanatolien Stück für Stück geräumt. Fast alle sind bereits
gegangen, die Lebenden haben selbst ihre Toten mitgenommen. Denn Hasankeyf
wird bald untergehen. Im Juni wurden die Schleusen des 70 Kilometer
entfernten Ilısu-Staudamms geschlossen. Seitdem steigt das Wasser des
Tigris, der in wenigen Wochen die antike Kulturstätte fluten wird. Hier
soll ein riesiger Stausee entstehen.
Die Altstadt von Hasankeyf liegt verlassen da. Abgesehen von streunenden
Hunden und ein paar Menschen, die noch Türen und Fenster aus den
leerstehenden Häusern und den Trümmern holen, gibt es kein Lebenszeichen.
“Sie bauen an einen Ort mit einer Geschichte von mehr als 12.000 Jahren ein
Kraftwerk, das 50 Jahre Strom produzieren soll“, sagt der 40-jährige
Süleyman Ağalday.
Der Touristenführer hat sein ganzes Leben in Hasankeyf verbracht. Er zeigt
auf einen Felsen. “In der Höhle da haben meine Eltern geheiratet, und in
der Höhle da vorne lebt immer noch ein Freund von mir.“ Dann bückt er sich
und hebt ein Schild auf, die Witterung hat die Schrift verblassen lassen,
trotzdem ist darauf noch lesbar: “Willkommen in der Wiege der Zivilisation:
Mesopotamien!“
Hasankeyf am Ufer des Tigris ist eine der ältesten Siedlungen in
Mesopotamien. Die AKP-Regierung setzte den Ilısu-Damm gegen die Proteste
von Umweltaktivist*innen und breiten Teilen der türkischen Gesellschaft
durch. Hasankeyf-Aktivist*innen kämpften jahrelang gegen den Staudamm und
gingen bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der
schließlich im Februar die Beschwerde als unzulässig zurückwies.
## Der Wasserspiegel steigt stetig
In dem Wasserkraftwerk, das neben dem Staudamm gebaut wurde, soll künftig
Strom erzeugt werden. Mit dem Bau begann für die Bewohner*innen von
Hasankeyf eine jahrelange Phase der Unsicherheit. Inzwischen ist der
Staudamm fertig und der Wasserspiegel des Flusses steigt langsam und
stetig. Viele umliegende Dörfer sind bereits überschwemmt. Das Wasser kommt
der antiken Altstadt von Hasankeyf, die südlich des Flusses liegt, mit
jedem Tag ein Stück näher. Voraussichtlich wird der Tigris die Kulturstätte
Mitte Februar erreichen.
Seit Monaten wird das alte Hasankeyf Stück für Stück abgetragen und an
einen neuen Ort versetzt. Drei Kilometer von Hasankeyf entfernt hat die
staatliche Wohnbauagentur Toki eine Siedlung am Reißbrett entworfen. Vor
der neuen Siedlung steht zwar ein Ortsschild mit dem Namen Hasankeyf, doch
mit der antiken Kulturstätte hat die Planstadt aus einstöckigen
Betonhäusern nichts gemein.
Viele ehemalige Bewohner*innen der Altstadt sind inzwischen in das neu
gegründete Hasankeyf am Fuße des Raman-Berges gezogen. Nur Personen, die
zum Stichtag 1. April 2013 in Hasankeyf gemeldet und verheiratet waren,
haben ein Anrecht auf ein neues Haus auf der anderen Seite des Tales.
Familien, die noch keinen anderen Wohnort gefunden haben, leben immer noch
in der Altstadt.
Am Rand der Straße zur neuen Siedlung stehen zwölf Pinienbäume, die aus dem
alten Hasankeyf hierher gebracht wurden. Sie sind inzwischen vertrocknet.
Nebenan liegt ein großer Friedhof mit neu angelegten Gräbern. Damit sie
nicht geflutet werden, wurden auch die Gräber im alten Hasankeyf geöffnet
und die Toten zur neuen Siedlung transportiert.
Eines der frisch aufgeschütteten Gräber gehört dem Sohn von Şifayet Sevim,
der vor ein paar Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Anfangs
habe sie gezögert, als sie gefragt wurde, ob sie das Grab umsetzen lassen
wolle. Doch dann entschied sie sich dafür. „Ich hatte Angst, dass das Grab
überschwemmt wird. Als das Grab dann geöffnet wurde, hat mich das sehr
getroffen. Es war als würde ich den Schmerz vom ersten Tag noch einmal
erleben“, erzählt sie. Sevim selbst hat ein Stück Land in der neuen
Siedlung bekommen, auf dem sie ein Haus bauen wird.
## Ein neues Tourismus-Konzept
Anfang November wurden die historischen Stätten von Hasankeyf geschlossen.
Seitdem ist der Tourguide Süleyman Ağalday arbeitslos. Auch der Teegarten,
den er am Fuße der Felsen eröffnet hatte, ist inzwischen geschlossen. Es
kommen keine Tourist*innen mehr in die Altstadt, weil es hier nichts mehr
zu sehen gibt. Jetzt zeigen die Tourguides den Besucher*innen auf Fotos,
wie es hier früher einmal ausgesehen hat.
Auf der Schotterpiste, die zur Siedlung führt, wird das kulturelle
Gedächtnis von Hasankeyf transportiert. Insgesamt werden sieben historische
Monumente umgesetzt. Eines davon, das Zeynel Bey Türbesi, ein Grabmal aus
dem 15. Jahrhundert, steht inzwischen verwaist in der Wüste. Auch ein
großer Teil der El Rızk-Moschee, die das Symbol von Hasankeyf ist, wurde
zerlegt und zu großen Teilen in die neue Siedlung transportiert.
Der Bezirksvorsteher Haluk Koç betrachtet das, was in Hasankeyf geschieht,
aus einer anderen Perspektive. Er räumt ein, dass man das Projekt wegen der
Auswirkungen auf die Umwelt und das Kulturerbe kritisch sehen kann. Doch
für die Stromversorgung und die türkische Wirtschaft sei der Ilısu-Damm ein
wichtiges Projekt. 2019 sei für den Tourismus in der Stadt eines der
erfolgreichsten Jahre gewesen, erzählt er. Viele Menschen seien gekommen,
um die Siedlung noch einmal zu sehen, bevor sie untergeht.
“Der Umzug und Aufbau an einem anderen Ort hat auch eine touristische
Seite. Ein Minarett in Teile zu zerlegen und woanders wieder aufzubauen,
ist eine interessante Sache“, sagt er. Das sei ein neues Konzept des
Tourismus. “Wir würdigen das alte Kulturerbe und stellen es in ein neues
Licht.“ Die Umzugsarbeiten kosteten bisher 600 Millionen Lira, also knapp
90 Millionen Euro.
Der Bezirksvorsteher hat noch viel vor in Hasankeyf. Zwischen dem alten und
dem neuen Hasankeyf soll eine Fährverbindung entstehen. Am Rande der neuen
Siedlung, wo sich das Museum befindet, soll ein Hafen gebaut werden, der
sich dem verändernden Wasserspiegel anpasst.
Auch wenn die letzten Tage von Hasankeyf angebrochen sind, mobilisieren
Menschen in den sozialen Medien weiterhin gegen den Staudamm: “Es ist noch
nicht zu spät für Hasankeyf! Stoppt den Staudamm!“, heißt es in einem Post.
Der Tourguide Süleyman Ağalday blickt aus dem Fenster seines neuen Hauses
über das Tal. Von hier scheinen die Höhlen und Felsen von Hasankeyf weit
weg. „Es fühlt sich an, als ob sie mir mit Hasankeyf meine Kindheitsfreunde
wegnehmen“, sagt er. „Und unsere Zukunft nehmen sie uns gleich mit.“
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
30 Dec 2019
## AUTOREN
Figen Güneş
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