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# taz.de -- Vom Ende der Authentizität
> Die Mode der 2010er Jahre war geprägt von Digitalität, Drag und Druck zur
> Selbstoptimierung. Ein Resümee
Bild: Mode, die Meme werden soll: ein Kleid mit unmissverständlicher Ansage au…
Von Donna Schons
Man kann es sich heute nur schwer vorstellen, aber als Instagram im
Oktober 2010 veröffentlicht wurde, richtete sich die App vornehmlich an
Menschen mit einer Vorliebe für Independentfilme, Plattenspieler,
Schreibmaschinen und Secondhandkleidung, die das von den Beatniks
entliehene Label „Hipster“ mit dem gleichen Augenrollen von sich wiesen,
mit dem Avril Lavigne in einem Interview zu Beginn der nuller Jahre
verkündete: „It’s more punk to tell people you’re not punk.“ Das Tolle…
Instagram war damals, dass man digital aufgenommene Fotos so bearbeiten
konnte, dass sie aussahen wie analoge. Der Beginn der Dekade war geprägt
von Nostalgie, von einer Sehnsucht nach Authentizität und Patina, die sich
in den skeumorphen, ältere Produkte nachahmenden Oberflächen des drei Jahre
zuvor veröffentlichten iPhones manifestierten: das Instagram-Icon war eine
Polaroidkamera, die YouTube-App sah aus wie ein Röhrenfernseher und als
Notizen eingetippte Texte erschienen in krakeliger Blockschrift auf einem
digitalen Yellow Legal Pad.
Das Update des Apple-Betriebssystems iOS 6 im Jahr 2014 versinnbildlichte
eine Kehrtwende: Das digitale Interface des Smartphones orientierte sich
nicht mehr an analogen Objekten, stattdessen erschien ein Großteil der
Realität fortan für die Sehgewohnheiten des digitalen Raums optimiert. In
einem Essay für das Technikportal The Verge beschrieb Kyle Chayka 2016 den
„Airspace“: ein internationales Gefüge aus einheitlich minimalistisch
eingerichteten Cafés, Coworking Spaces und Ferienwohnungen, die sich mit
ihren dekorativen Glühbirnen, Sichtziegeln und Altholztischen jeglicher
lokaler Zuordnung entziehen und akkumuliert einen virtuellen Raum bilden.
Ähnliche Verflachungsprozesse ließen sich in der Mode der 2010er
beobachten: Labels wie Balenciaga, Balmain, Burberry, Diane von
Furstenberg, Rimowa und Yves Saint Laurent ersetzten ihre einprägsamen
Logos durch einheitliche serifenlose Lettern, die im Anbetracht ihrer
Skalierbarkeit einem Webdesign-Handbuch entsprungen sein könnten. Die
Pull-to-Refresh-Logik des spontanen Drops von Kollektionen löste die
langatmigen Zyklen des Modejahres ab, und Onlineshops eiferten Amazon darin
nach, den Lag von der Kaufentscheidung bis hin zum Erhalt des Produkts auf
ein Minimum zu reduzieren.
Selbst in den Front Rows betrachtete man neue Kollektionen durch den Filter
der Smartphone-Screens, und so dominierten klare Linien, großflächige Logos
und markante Setzungen die Laufstege der 2010er. Die Preispolitik des
Luxussektors beruhte weniger auf dem Einsatz raffinierter Schnittmuster und
kostspieliger Stoffe als vielmehr auf Werten, die durch auratische
Aufladung erzeugt wurden. An die Spitzen der großen Modehäuser drängten
kollaborativ arbeitende Kreativdirektoren wie Virgil Abloh, dessen Talent
vor allem in seiner treffsicheren Produktion von Hypes begründet liegt.
Zahlreiche Labels setzten auf die Verbreitungslogiken des Internets und
versuchten, ähnlich wie Abloh appropriierbare popkulturelle Referenzpunkte
zu schaffen. Unter die Kategorie der Meme-Mode fielen Viktor & Rolfs
opulente Tumblr-Slogan-Tüllkleider („I’m not shy, I just don’t like you�…
ebenso wie Moschinos slapstickhaft überdimensionierte Baseballcaps, die
knapp 4 Zentimeter großen Chiquito-Handtaschen von Jacquemus und
Alessandro Micheles Auto-Brand-Hacking („Guccy“). Mehr als alle anderen
beherrschte jedoch zweifelsohne Demna Gvasalia die Kunst des viralen
Designs. Das DHL-Shirt des georgisch-deutschen Designers evozierten ebenso
viele Feuilleton-Kommentare wie sein mehrere tausend Dollar teures Imitat
der blauen Frakta-Tragetasche von Ikea.
Gvasalias Durchbruch mit seinem Label Vetements, verortet an der Grenze
zwischen Streetwear und Haute Couture, und seine anschließende Berufung zum
Kreativdirektor Balenciagas im Oktober 2015 markierte die endgültige Abkehr
vom prätentiösen Authentizitätsstreben der Hipster. Gvasalias Models
posieren als Punks, korrupte Politiker und Hooligans und verorteten sich
mit ihren archetypischen Rollen in der „Hölle der Relativität aller
Zeichen“, als die Jean Baudrillard die Mode bereits in den 70er Jahren
enttarnte.
Ironisches Power Dressing, der „I really don’t care, do u?“-Parka von Zar…
mit dem Melania Trump 2018 für Aufsehen sorgte, Normcore,
Fast-Fashion-Hoodies mit „Stay Woke“-Aufdruck, Maximalismus und Ugly
Sneaker – das eng mit der Mode verbandelte Künstlerkollektiv Dis traf den
Nagel auf den Kopf, als es die Berlin-Biennale 2016 unter das
zeitdiagnostische Motto „The Present In Drag“ stellte.
Im September 2012 postete Kim Kardashian ein Selfie, auf dem rituell
anmutende Bemalungen ihr Gesicht zieren: von ihrer Nasenspitze führt ein
heller Strich hinauf zu den Augenbrauen und mündet auf der Stirn in einer
breit auslaufenden Fächerform, dunkle Balken markierten die Hohlräume
unterhalb der Wangenknochen, und der Bereich unterhalb der Augenpartie ist
bedeckt von einer dicken Schicht weißem Puder. Der Post popularisierte mit
„Baking“ und „Contouring“ gleich zwei Make-up-Techniken, die bis dahin …
allem von Dragqueens angewandt wurden. Die Kardashian-Familie prägte mit
ihren technomorphen und speziell auf Fotogenität modulierten Körpern und
Gesichtern maßgeblich das gängige Schönheitsideal der 2010er. Wie die
Modekritikerin Natasha Stagg in ihrer Ende 2019 erschienenen Essaysammlung
„Sleeveless“ bemerkt, verheimlichen die Kardashians niemals die
Anstrengungen und die Konstruiertheit, die ihrer Schönheit zugrunde liegt.
Im Fernsehen und auf Instagram gewähren sie minutiösen Einblick in Facials,
Outfit-Fittings, Botoxbehandlungen und Fitnessstudio-Besuche. „Faking
beauty meant keeping the falsification a secret“, schreibt Stagg über die
Prä-Kardashian-Ära. In den 2010ern, die von konstanter Transformation und
Selbstoptimierung geprägt waren, wurde diese Regel hinfällig. Als besonders
geeignet für die Zurschaustellung des sorgsam geformten Körpers und des ihm
zugrundeliegenden Arbeitsethos erwies sich der Athleisure-Trend, der eng
anliegende Sportbekleidung als Alltagsbekleidung zweckentfremdete und so
eine ständige Bereitschaft zur körperlichen Betätigung suggerierte.
Das Spiel mit den Rollen und der Prozess ständiger Verformung kann ein
euphorisches Eintauchen ins kühle Nass der Fluidität bedeuten, wie es die
PC-Music-Ikone Sophie in ihrer Madonna-Reprise „Immaterial“
heraufbeschwört. Meist erzeugt es jedoch vornehmlich Druck. Mit Verweis auf
den Hang der 2010er zu Kleidungsstücke wie aus der Fetischszene entlehnten
Ledergeschirren und hautengen Yoga Pants, die auf das Streben nach einem
schmerzlich unerreichbaren Status verweisen, postuliert Stagg:
Dysmorphophobie, eine Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers, sei
unausweichlich.
Angesichts der weltpolitischen Lage und einer drohenden Umweltkatastrophe
kämpfte die Mode der 2010er nicht nur mit Selbstwahrnehmungsstörungen,
sondern auch mit Selbstlegitimierungsproblemen. Oft behalf man sich mit
kosmetischem Laufsteg-Aktivismus: Karl Lagerfeld inszenierte für Chanel
eine Demonstration mit vage feministischen Protestschildern („Free
Freedom“, „Ladies First“), Marni brachte die gestrickten Pussy-Wollmützen
des Women’s March auf den Catwalk und Maria Grazia Chiuri druckte den
Titel von Chimamanda Ngozis Essay „We Should All Be Feminists“ in
Großbuchstaben auf ein Dior-Shirt.
Kim Kardashian nahm den wachsenden politischen Unmut zum Ende der Dekade
indes zum Anlass für eine weitere Selbsttransformation, begann ein
Jurastudium und fing an, sich für Gefängnisrehabilitation einzusetzen. 2018
hielt sie zum ersten Mal eine Rede im Weißen Haus, wenige Monate später
besuchte sie zum zweiten Mal den US-Präsidenten, der wie sie selbst auch
durch Reality-TV zur Berühmtheit gelangt war. Die kostümartig konservativen
Hosenanzüge, die sie zu diesen Anlässen trug, stammten in beiden Fällen von
Vetements.
7 Jan 2020
## AUTOREN
Donna Schons
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