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# taz.de -- Prozess gegen alevitischen Deutschtürken: „Das zielt auf alle Al…
> Am Freitag begann in Istanbul der Prozess gegen Turgut Öker wegen
> Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda. Er ist einer der wichtigsten
> Sprecher der Aleviten.
Bild: Turgut Öker (Mitte) mit deutschen Prozessbeobachtern vor dem Gerichtsgeb…
Turgut Öker sieht müde aus, aber er gibt sich weiterhin kämpferisch. „Die
Anklagen gegen mich zielen auf alle Aleviten“, sagt er am Freitagmittag im
Anschluss an seinen ersten Prozesstag im neuen, riesigen Justizpalast auf
der anatolischen Seite Istanbuls. „Ich habe keinen Moment daran gedacht,
nach Deutschland abzuhauen, auch nicht, bevor die Ausreisesperre gegen mich
verhängt wurde“, sagt er. „Hier sind doch so viele Leute, die mich
unterstützen und die auf mich zählen“.
Tatsächlich haben sich am Freitagvormittag mehr als 50 Freunde, Bekannte
und politische Beobachter, darunter auch aus Deutschland, in Kartal vor dem
Gericht eingefunden, um Öker beim Prozessauftakt zu begleiten. Die
Staatsanwaltschaft, die dann während des Prozesses gar nicht vertreten ist,
hat einiges zusammengetragen. Man wirft ihm vor, beleidigende Äußerungen
über Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in sozialen Medien geteilt zu
haben, er soll gegen einen Erdoğan-Besuch in Deutschland protestiert haben
und vor allem soll er 2013 eine alevitische Protestaktion gegen die dritte
Bosporusbrücke mitgetragen haben, weil Erdoğan die Brücke nach dem
osmanischen Sultan Yavuz Selim benennen ließ. Selim ist als einer der
größten Aleviten-Schlächter in die Geschichte eingegangen.
Turgut Öker ist nicht nur ein Alevit unter vielen, sondern einer der
wichtigsten Sprecher der religiös-kulturellen Minderheit. Er war bis 2012
mehr als zehn Jahre lang Vorsitzender der alevitischen Gemeinde in
Deutschland, er ist Ehrenvorsitzender der europäischen Föderation der
Aleviten und auch in der kurdisch-linken HDP aktiv, für die er von Juni
2015 bis November 2015 im Parlament saß.
Wegen seiner Reden als Abgeordneter und anderer politischer
Meinungsäußerungen ist er schon zweimal verurteilt worden und hat jeweils
eine Bewährungsstrafe bekommen. Wird er jetzt noch einmal wegen
Präsidentenbeleidigung oder Terrorpropaganda verurteilt, muss er für
mehrere Jahre ins Gefängnis. Vor vier Wochen hat ein Gericht eine
Ausreisesperre gegen ihn verhängt. Aber er hat, wie er sagt, auch vorher
„nicht daran gedacht, nach Hamburg zurückzugehen“.
In Hamburg hat er seit seiner Kindheit gelebt, bevor er 2015 wegen seiner
Kandidatur auf der Liste der HDP in die Türkei kam und seither wieder in
der Türkei lebt. Er hat beide Staatsangehörigkeiten, aber für die türkische
Justiz ist er lediglich türkischer Staatsbürger. Turgut Öker fühlt sich
aber vor allem als Alevit.
## Haustüren mit Farbe gekennzeichnet
Die Aleviten sind mit rund 20 Millionen Menschen eine große Minderheit in
der Türkei, die sich selbst zwar als Muslime betrachten, von streng
gläubigen Sunniten wie Präsident Erdoğan und den meisten AKP-Mitgliedern
aber eher als Ungläubige gesehen werden. Aleviten sind aus dieser Sicht
aber nicht nur Häretiker, sie sind auch potentielle Aufrührer im
politischen Sinne. Die meisten Aleviten haben seit Gründung der türkischen
Republik einen laizistischen Staat unterstützt, weil sie keinen neuen
sunnitischen Sultan, und sei es im Gewand eines Präsidenten, haben wollen.
Das führt dazu, dass Aleviten, außer in der kemalistischen CHP und der
kurdisch-linken HDP, kaum Aussicht auf politische Ämter in der Türkei
haben.
Es gab immer wieder Pogrome gegen Aleviten durch sunnitische Fanatiker,
zuletzt 1993 bei einem alevitischen Kulturfestival in Sivas. Erst vor
wenigen Tagen machte die Meldung die Runde, dass die Haustüren von Aleviten
in einem Vorort von İzmir mit Farbe gekennzeichnet worden waren, in der
Vergangenheit ein Zeichen von Fanatikern, mit denen sie ihre Angriffsziele
markierten.
Seit Jahrzehnten kämpfen Aleviten in der Türkei dafür, dass ihre
Gebetshäuser, die cemevleri, den Moscheen gleichgestellt werden und
ebenfalls von der staatlichen Religionsbehörde gefördert werden, die
Milliarden in den Bau von Moscheen und die Besoldung von Imamen steckt.
Bislang vergeblich, und solange die AKP an der Regierung bleibt, können sie
auch nicht mehr damit rechnen.
Stattdessen lässt die Religionsbehörde, die direkt dem Präsidenten
untersteht, mit Vorliebe auch in solchen Gegenden Moscheen bauen, die
überwiegend von Aleviten bewohnt sind. Die stehen dann zwar meistens leer,
aber der sunnitische Staatsislam zeigt Flagge. Auch im Schulunterricht
kommen die Aleviten nicht zu ihrem Recht. Forderungen, Kindern aus
alevitischen Familien einen eigenen Religionsunterricht anzubieten,
verhallten bislang ungehört.
Turgut Öker will deshalb weiter für die Rechte der Aleviten in der Türkei
kämpfen. Politiker der CHP und der HDP waren als Beobachter zu seinem
Prozess gekommen. Seine Verteidiger plädierten auf Freispruch und forderten
die Aufhebung der Ausreisesperre. Doch das Gericht will sich mit einer
Entscheidung noch Zeit nehmen. Sein Prozess wurde auf den 26. Februar
vertagt. Ausreisen darf er bis dahin auch nicht.
13 Dec 2019
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
taz.gazete
Politik
Türkei
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