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# taz.de -- ARD-Beitrag über Dersim-Massaker: Proteste gegen Aufarbeitung
> Die ARD thematisiert die Verantwortung Atatürks für das Dersim-Massaker
> in den 1930ern. Türkeistämmige protestieren nun deshalb gegen die ARD.
Bild: Gefangengenommene Dersimer, bewacht von türkischen Soldaten (Archivbild …
Metin Yılmaz kämpft mit der Stimme gegen eine Polizeisirene an. „Wir sind
hier, weil wir zu Mustafa Kemal Atatürk und zu den Werten der Republik
stehen“, ruft der Berliner Journalist und Sprecher der nationalistischen
Berliner İyi-Partei der Menge zu. Vor dem ARD-Hauptstadtstudio mit seiner
blauen Leuchtschrift stehen an diesem verregneten Abend Menschen mit
rot-weißen türkischen Fahnen.
Rund 40 Anhänger des Republikgründers haben vergangenen Freitag in Berlin
gegen einen sechsminütigen TV-Beitrag der NDR/ARD-Kultursendung „Titel,
Thesen, Temperamente“ (ttt) protestiert, der Anfang Dezember ausgestrahlt
wurde. Der Titel: „Das vergessene Massaker – wie Kemal Atatürk Aleviten
ermorden ließ“. Die Sendung thematisiert die Massaker an den
ostanatolischen Dersimern in den Jahren 1937 und 1938. Offiziellen
türkischen Angaben zufolge wurden damals 13.806 Menschen getötet, andere
Schätzungen gehen von drei- bis viermal so vielen Opfern aus.
Die Türkei leugnet die „tragischen Ereignisse“ zwar nicht, wie die Massaker
von Offiziellen häufig bezeichnet werden. 2011 entschuldigte sich Recep
Tayyip Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, sogar offiziell für die
Massaker. Oppositionelle finden diese Entschuldigung aber nicht ehrlich.
Sie sei aus politischem Kalkül erfolgt, sagen sie.
Im Gegensatz zur offiziellen türkischen Erzählung sprechen Kritiker von
einem Völkermord – auch in dem Beitrag der ARD ist davon die Rede. Der
Konflikt um die Deutungshoheit über die Massaker ist in Berlin nicht neu.
Seit Ende 2015 wird im Kreuzberger Bezirksparlament über ein Mahnmal für
die Opfer gestritten. Nationalgesinnte Türkeistämmige stemmen sich gegen
das Mahnmal, dessen Errichtung Ende März beschlossen wurde.
## Erwartbarer Widerspruch
Die ARD-Sendung thematisiert auch die Verantwortung des Staatsgründers
Mustafa Kemal Atatürk als Hauptdrahtzieher der Massaker in Dersim. Das
trifft einen empfindlichen Nerv bei vielen türkeistämmigen Bürgern. Bisher
vermieden es Medien eher, den ersten Staatschef der Türkei in Verbindung
mit den Dersim-Massakern zu bringen.
„Er verwandelte das rückständige Osmanische Reich in eine westlich
orientierte Republik“, sagt „ttt“-Moderator Max Moor zu Beginn des
Beitrags. „Für die meisten Türken ist er daher bis heute nichts weniger als
eine Lichtgestalt.“ Bis heute werde verdrängt, so Moor weiter, „dass er zur
Durchsetzung seiner Ziele keine Skrupel kannte und über Leichen ging“. Die
Autoren des Beitrags berichten, wie Atatürk für die Massaker Giftgas bei
Deutschland bestellt habe.
Der Beitrag blieb nicht unwidersprochen. Auch in München und Köln kam es zu
Kundgebungen vor Sendeanstalten der ARD. Türkische Medien reagierten prompt
auf die Proteste vom vergangenen Wochenende. Türkische Politiker
verurteilten die ARD. Im Beitrag belegen die Autoren ihre Behauptung mit
einem Dokument vom August 1937 aus dem türkischen Staatsarchiv: eine
Bestellung von 20 Tonnen Giftgas aus Deutschland, unterzeichnet von
Atatürk.
Die Teilnehmer der Berliner Kundgebung stellen die Echtheit des Dokuments
infrage. „Wir protestieren gegen die historisch unhaltbare Verleumdung
Atatürks“, ruft Yılmaz den Anwesenden zu und lädt sie zu einer
Schweigeminute für Atatürk, „seine Waffengefährten und für all unsere
bisherigen Märtyrer“ ein. Wenige Minuten später stimmt die Menge die
türkische Nationalhymne an.
## Die Genozid-Frage
„Er wollte die Türkei zu einem modernen Nationalstaat formen und arbeitete
dafür auch mit dem Hitler-Regime zusammen“, heißt es außerdem im
„ttt“-Beitrag. Deshalb sprach AKP-Sprecher Ömer Çelik am Freitag von einer
„hässlichen Sendung“. Vergleiche mit Hitler seien inakzeptabel. „Die hier
getätigten Beleidigungen richten sich direkt gegen unser Volk und unseren
Staat“, so Çelik. Er kündigte Konsequenzen an: „Unsere zuständigen
Ministerämter werden in dieser Sache aktiv werden.“ Die Macher von „ttt“
äußerten sich deshalb auf ihrer Website zur aufgebrachten Kritik. „Wir
haben Kemal Atatürk nicht mit Adolf Hitler verglichen oder gleichgesetzt“,
heißt es dort unter anderem.
Zur Berliner Kundgebung gegen den Beitrag ist auch Demet Kılıç gekommen.
Sie ist Alevitin, gehört aber trotzdem zu den Kritikern der ARD. Sie
kritisiert, dass der Sender von einem Völkermord spricht: „Warum hat
Atatürk nur in Dersim Aleviten ermorden lassen, warum nicht auch in anderen
Städten?“ Die Frage weist auf eine Unklarheit in der Deutung der
Dersim-Frage hin: Kann bei diesem auf die Region Dersim begrenzten
Massenmord von Genozid die Rede sein?
Die Produzenten Thorsten Mack und Karaman Yavuz sprechen von einem Genozid
und begründen dies damit, dass Atatürk „einen Staat, einen Führer, eine
Sprache und eine Religion – den sunnitischen Islam“ angestrebt habe. „Die
Dersimer sprachen nicht Türkisch und waren nicht sunnitisch“, heißt es im
Beitrag. Das erklärt aber nicht, warum in den Jahren 1937/38 Aleviten in
anderen Landesteilen verschont blieben.
## Die Definition des Massakers
Auch Genozidforscher sind sich in dieser Frage uneins. Der Historiker
Wolfgang Benz schließt einen Genozid im Falle von Dersim aus. Benz sagt:
„Ein Völkermord hat eine universale Intention. Das heißt, er richtet sich
gegen eine ethnisch, religiös oder rassistisch definierte
Bevölkerungsgruppe in ihrer Gesamtheit.“ Bei den Massakern von Dersim
handele es sich dagegen „um eine regional begrenzte Aktion“.
Andere gehen sehr wohl von einem Völkermord aus, weil der Staat in Dersim
über mehrere Jahre systematisch und planmäßig vorgegangen sei. „Maßstab f…
einen Völkermord sind weder die Zahl der Ermordeten noch die Größe der
Region, in der er stattfindet“, sagt Genozidforscher Yektan Türkyılmaz,
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Forum Transregionale Studien.
Maßgebend sei, wie die Täter ihre Opfer sähen. So betrachtet war Dersim für
die Kemalisten eine Projektionsfläche, die Türkyılmaz wie folgt beschreibt:
„Eine über das Kızılbaş-Alevitentum das Kurdentum verbreitende,
rückständige und wilde Region. Ein überkommenes Übel aus dem Osmanischen
Reich, das es gilt, um der Zivilisation willen von seinen Wurzeln her
auszurotten.“
Während manche also noch um die Definition der historischen Gewalttat
ringen, möchten andere am besten gar nichts von dem Massaker wissen: Metin
Yılmaz, Demet Kılıç und ihre Weggefährten wollen am kommenden Samstag
wieder gegen das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen protestieren.
9 Dec 2019
## AUTOREN
Hülya Gürler
## TAGS
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Politik
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