Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Atheismus in der Türkei: Ein neuer Säkularismus von unten
> Die Zahl junger Menschen, die Religion ablehnen, wächst in der Türkei.
> Ein Grund dafür ist laut einem Forschungsprojekt die Ernüchterung über
> die Politik der AKP.
Bild: Manche Interviewten nannten eigene Unrechtserfahrungen als Grund für ihr…
Die eklatante Ungleichheit der Geschlechter im sunnitischen Islam führt bei
einer wachsenden Anzahl jüngerer Menschen in der Türkei zu einer Ablehnung
der Religion. Diese These formulierte zumindest der Marburger
Islamwissenschaftler Pierre Hecker im Rahmen einer Konferenz zu „Rechten
und Gleichheit in der zeitgenössischen Türkei“ an der Humboldt-Universität
Berlin. 29 von 30 Personen, mit denen er im Rahmen eines Forschungsprojekts
qualitative Interviews führte, gaben Geschlechterungleichheit als Grund
dafür an, warum sie ihren Glauben verloren haben.
Das interdisziplinäre Programm „Blickwechsel – Studien zur zeitgenössisch…
Türkei“ präsentierte von Mittwoch bis Freitag auf seiner Abschlusskonferenz
die Ergebnisse von fünf Forschungsprojekten. Eines davon beschäftigte sich
mit dem neuen Unglauben in der türkischen Gesellschaft und den
kulturpolitischen Kämpfen um den Atheismus-Diskurs. Das
Blickwechsel-Programm der Mercator-Stiftung bringt seit 2014 an der
Humboldt-Universität Wissenschaftler*innen von türkischen und deutschen
Universitäten zusammen, die sich zu anderen Themen austauschen wollen als
sie in der traditionellen Turkologie oder den außenpolitisch gefärbten
Türkeistudien vorherrschen.
Die Arbeitsgruppe um Kaya Akyıldız, Ayşe Çavdar, Ivo Furman und Pierre
Hecker beschäftigte sich mit Atheismus als Reaktion auf das Bestreben der
AKP-Regierung, die von ihr favorisierte Kultur eines frommen Konservatismus
zur gesellschaftlichen Norm zu erheben. Der sunnitische Islam sei unter der
AKP von einer Religion zu einem hegemonialen Projekt umgewandelt worden,
sagt Ayşe Çavdar, die sich seit längerer Zeit mit dem Leben in islamisch
orientierten Gated Communities der neuen Istanbuler Mittelklasse
beschäftigt.
Dieses kulturelle Milieu habe sich nicht zuletzt in Abgrenzung zum strengen
Laizismus der traditionellen Mittelklasse herausgebildet. „Das Lachen der
Aufgeklärten über die vermeintliche Irrationalität der AKP schweißt ihre
Anhänger*innen zusammen“, sagt Çavdar. Das Forschungsprojekt beschäftigte
sich folglich weniger mit den angestammten kemalistischen Eliten, für die
Religion oft mit Rückständigkeit verbunden war, als mit Menschen, die in
den letzten zwei Jahrzehnten in konservativ-religiösen Familien
sozialisiert wurden. „Man muss allerdings sagen, dass der Kemalismus nie
antireligiös war, sondern sich auf die staatliche Kontrolle von Religion
konzentriert.“
## Der Wendepunkt, an dem Menschen ihren Glauben verloren
Diese staatliche Kontrolle von Religion konnte die AKP in ihre eigenen
Hände nehmen, seit sie in fast allen Institutionen den Ton angibt. Neben
dem Bildungsbereich ist es vor allem das von Atatürk gegründete Präsidium
für religiöse Angelegenheiten Diyanet, das für die staatliche Prägung des
sunnitischen Islam in der Türkei sorgt und Dienstherr des in Deutschland
umstrittenen Moscheenverbandes Ditib ist. Als der Diyanet-Präsident Ali
Erbaş im April 2018 ein Machtwort gegen den „perversen Irrglauben des
Deismus“ sprach und damit jeglichen Gottesglauben verdammte, der sich nicht
auf den Propheten Muhammed und den Koran stützt, löste er eine stürmische
Twitter-Debatte aus.
Aus insgesamt fast 22.000 Tweets zum Thema filterte der
Medienwissenschaftler Ivo Furman 5.325 Tweets heraus, die er ausführlich
analysierte. Ein Teil davon versteht sich als Ausdruck einer
Gegenöffentlichkeit, die den säkularistischen Charakter der Türkei anmahnt
oder allgemein auf Religionsfreiheit pocht. Viele Twitter-User*innen
veröffentlichten jedoch intime, persönliche Äußerungen über ihre Gründe,
den offiziellen sunnitischen Islam abzulehnen. Ohne Hashtags und Verweis
auf kollektive Erzählungen sprachen sie über Fragen, die man normalerweise
in der Öffentlichkeit nicht preisgibt, so Furman. „Sie zeigen vor allem,
dass das Private politisch ist.“
Mit diesen Selbstäußerungen entstand ein Gefühl von Gemeinschaft unter
Menschen, die den normativen Ansprüchen der post-kemalistischen „neuen
Türkei“ Erdoğans nicht mehr gerecht werden wollen oder können. „Es geht
hier nicht um Atheismus als eine Subkultur von Menschen, die ohnehin
weltlich sozialisiert wurden, sondern um individuelle Geschichten von
Einzelpersonen aus dem religiösen Millieu, die erzählen, warum sie
aufgehört haben zu glauben“, sagt Pierre Hecker. Auch in den Interviews,
die er führte, sei es meist um einen Wendepunkt im persönlichen Leben
gegangen, an dem die Menschen ihren Glauben verloren haben.
Ein junger Mann habe ihm erzählt, er sei von Freunden zum Wodkatrinken
eingeladen worden. Dabei habe er preisgegeben, dass er nicht an den Gott
des sunnitischen Islam glaube und sei prompt verprügelt worden – von
alkoholisierten Männern, die selbst ohne Scham von ihren Ehebrüchen
erzählten. Das Brisante an dieser Episode: Der Interviewte studiert
islamische Theologie und wird zum Imam ausgebildet. „Diese Geschichten von
Menschen aus einem religiösen sozialen Umfeld, die aufhören zu glauben und
ihren Glauben zu praktizieren, stellen eine Bedrohung dar“, sagt Hecker.
## Die religionsmüde junge Generation
Tatsächlich kommt die Bedrohung von innen. Die konservative Journalistin
Ayşe Böhürler hatte im September 2017 in der AKP-nahen Zeitung Yeni Şafak
über die „religionsmüde“ junge Generation geschrieben, die keine Lust auf
den offiziellen Islam mehr habe. „Bei uns allen“, schrieb Böhürler, „ma…
sich das Gefühl breit, dass das Abenteuer Islam gescheitert ist“. Hohe
Wellen schlug in der Türkei auch, als der Theologe İhsan Fazlıoğlu auf
einem Panel im März 2018 sagte, seit dem Putschversuch seien in seine
Sprechstunde 17 kopftuchtragende Studentinnen gekommen, die ihm
anvertrauten, nicht an Gott zu glauben. „Bei allen liegt es an den
Machwerken derjenigen, die sich als Vertreter des Islam in Szene setzen“,
sagte Fazlıoğlu an die Adresse der Machthaber gerichtet.
Als Diyanet-Präsident Erbaş in dieser Debatte ein Machtwort sprechen
wollte, indem er die vom Glauben Abgefallenen verdammte, löste er die
besagte Twitter-Debatte aus – ein schönes Beispiel für den
Streisand-Effekt. Dass die höchste Religionsbehörde der Regierung auf diese
Debatten mit einem ausgrenzenden Machtwort reagierte, wird von vielen als
ein weiteres Indiz für das Scheitern von Erdoğans politischem Projekt
gelesen. „Die Fähigkeit der AKP, Islam und Demokratie zusammenzubringen,
galt über Jahre als ein wichtiger Grund dafür, dass sie sich weitaus länger
an der Macht halten konnte als vorhergegangene türkische Regierungen“, sagt
Kaya Akyıldız.
Auch so gut wie alle Personen, die Pierre Hecker interviewte, nannten
Ernüchterung über die Politik der AKP oder gar eigene Unrechtserfahrungen
als Grund für ihren Glaubensverlust. Selbst ein Gesprächspartner, der
direkt auf den Koran einging, störte sich am „herrischen Ton“ des Textes
und der männlichen, paternalistischen Ansprache. Gerade so, als kritisierte
er den ewig drohenden Staatspräsidenten. „Da kann man schon vom Entstehen
eines neuen Säkularismus von unten sprechen“, sagt Ayşe Çavdar. Die
Forschungsgruppe habe nicht scharf unterschieden, wer atheistisch,
agnostisch, deistisch oder religionslos sei. „Wir glauben nicht an die
vermeintliche Polarisierung zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Bei
gemeinsamen Unrechtserfahrungen stehen sie durchaus zusammen“, sagt Çavdar.
15 Nov 2019
## AUTOREN
Oliver Kontny
## TAGS
taz.gazete
Politik
Glaube, Religion, Kirchenaustritte
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Philosoph Tim Crane über Religion: „Tief in der Psyche verwurzelt“
Der britische Philosoph Tim Crane hat ein Buch über Religion geschrieben –
aus Sicht eines Atheisten. Er fordert mehr Toleranz gegenüber Gläubigen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.