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# taz.de -- Ricsi darf keine Angst haben
> Das Roma-Filmfestival „Ake dikhea?“ macht die Vielfalt der
> Lebenswirklichkeiten von Sinti*ze und Rom*nija sichtbar und zeigt dabei
> die Entwicklung selbstbestimmter Narrative auf. Start ist am Donnerstag
> im Moviemento
Bild: Still aus „Genesis“ von Árpád Bogdán mit dem Hauptdarsteller Ricsi…
Von Gloria Reményi
Eine Roma-Siedlung in Ungarn, irgendwann im Jahr 2009. Bei der Schlachtung
eines Schweins im Freien redet man in der Gemeinde miteinander. So schnappt
der neunjährige Ricsi ein wichtiges Gespräch zwischen zwei Frauen auf: „Sie
haben die ganze Familie getötet. Nicht mal das Kind haben sie verschont“,
hört er. Angst zu spüren, erlaubt er sich dabei nicht, denn seinem Vater
hat er versprochen, in seiner Abwesenheit auf die Mutter aufzupassen.
Ricsis Vater sitzt nämlich im Gefängnis. Wegen Holzraubs wurde er zu zwei
Jahren Haft verurteilt.
„Genesis“ ist der jüngste Spielfilm des ungarischen Roma-Regisseurs Árpád
Bogdán. 2018 feierte er in der Panorama-Special-Sektion der Berlinale
Premiere. Nun ist er einer der Highlights des diesjährigen
Roma-Filmfestivals Ake dikhea? (Romanes für „Na siehst du?“), das vom
Verein RomaTrial in Berlin organisiert wird. Mit einem von Hamze Bytyçi
kuratierten internationalen Filmprogramm setzt sich die Veranstaltung seit
2017 zum Ziel, die vielfältigen Lebenswirklichkeiten von Sinti*ze und
Rom*nija sichtbar zu machen sowie selbstbestimmte Narrative in und
außerhalb der Filmkunst zu entwickeln. Bogdán nahm schon 2018 an dem
Festival teil und wurde für seinen Film „Ghetto Balboa“ ausgezeichnet.
Mit „Genesis“ ist Bogdán nun mit einer Geschichte über Antiziganismus im
Programm vertreten, die auf realen Ereignissen beruht, einer Anschlagserie
ungarischer Neonazis in den Jahren 2008 und 2009 in Roma-Dörfern, bei der
diese sechs Menschen töteten. Statt die Ereignisse zu rekonstruieren, nimmt
Bogdán die Folgen der grausamen Taten in den Blick, die neben den Opfern
jede*n Einzelne*n in der Gesellschaft treffen. Daher wird Ricsis
Perspektive durch die zweier weiterer Figuren im Film ergänzt, die anfangs
von den Ereignissen scheinbar nicht betroffen sind, sich allmählich aber
darin verwickelt wiederfinden. So geraten Virág und Hanna jeweils als
Freundin und als Anwältin eines der Täter in einen moralischen Konflikt,
dessen Last sie zu einer Positionierung drängt.
Bogdán strukturiert seine Geschichte als ein Triptychon, weshalb sich die
Verwebung der Erzählstränge erst spät ergibt. Doch das dichte Geflecht aus
symbolischen Motiven, das sich über den ganzen Film spannt, macht deutlich,
wie die drei Protagonist*innen eng miteinander zusammenhängen, wie um zu
betonen, dass jedes Individuum mit den eigenen Entscheidungen immer
Verantwortung für andere trägt. So scheint sich Bogdán von den konkreten
Ereignissen zu lösen, die „Genesis“ inspiriert haben, um dem Film den
universellen Charakter einer Geschichte über das Gute und Böse im Menschen
zu verleihen. Dabei wirkt der Blick des Regisseurs an manchen Stellen fast
zu naiv, doch in einer Zeit, in der Antiziganismus nicht nur in
rechtsradikalen Kreisen zu begegnen ist, wirkt „Genesis“ wie ein
notwendiger Appell an die Gesellschaft.
Wie bereits 2018 sind auch in diesem Jahr besonders viele Filme im Programm
vertreten, die sich auf Frauenrollen konzentrieren. Darunter „Alone at My
Wedding“, das Spielfilmdebüt von Marta Bergman, die sich schon vielfach in
Dokumentarfilmen mit den Roma-Gemeinschaften Rumäniens befasst hat. Nun
erzählt die in Bukarest geborene Regisseurin die Geschichte einer jungen
Romni und alleinerziehenden Mutter namens Pamela, die in der Hoffnung auf
eine freiere, selbstbestimmte Existenz eine von einer Heiratsagentur
vermittelte Beziehung eingeht.
Dass sich das neue Leben mit einem älteren Mann in Belgien anders als
erhofft herausstellen und eher von Einsamkeit statt von Nähe geprägt sein
wird, ist schon zu ahnen, wenn die Protagonistin ihre zweijährige Tochter
hinter sich lassen muss. Mit ausgeprägter Sensibilität geht Bergman mit
ihrer Hauptfigur um, fällt nie Urteile über ihre Entscheidungen und
begleitet sie mit fast dokumentarischem Auge. Doch das größte Verdienst von
„Alone at My Wedding“ gebührt dem fesselnden Spiel der Hauptdarstellerin
Alina Șerban, die eindringlich Pamelas innere Konflikte zu verkörpern weiß.
Neben Spiel- und Dokumentarfilmen nehmen auch Kurzfilme einen wichtigen
Platz bei Ake dikhea? ein. Zu sehen ist dieses Jahr unter anderem die erste
Folge des mehrteiligen Filmprojekts über LGBTQI-Rom*nja des ungarischen
Roma-LGBTQI-Aktivisten László Farkas. In der „We, queer Roma: Valencia“
betitelten Kurzdoku befragt Farkas Demetrio Gómez und Rosa María Quiroga
Ramírez, zwei queere Roma-Aktivist*innen des Valencia Critical Pride, zum
Selbstverständnis von queeren Rom*nija sowie zur mehrfachen
Diskriminierung, der sie als Minderheit in der Minderheit ausgesetzt sind.
Ein wichtiger, inhaltlich dichter Beitrag mit starken Protagonist*innen,
mit dem sich das Festival ausdrücklich queeren, intersektionalen
Perspektiven öffnet.
Ake dikhea? Festival of Romani Film, 5. bis 9. Dezember, Moviemento
4 Dec 2019
## AUTOREN
Gloria Reményi
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