# taz.de -- Abstraktion im Blumenkleid | |
> Michael Talke reduziert Händels Oper „Alcina“ am Goetheplatz auf ihren | |
> zeitlosen Kern aus Ratio und Leidenschaft | |
Bild: Marysol Schalit als Hexe Alcina | |
Von Cornelius Runtsch | |
Am Ende gerät es zum gemeinsamen Kraftakt, als die beiden Verlobten | |
Bradamante und Ruggiero die lustvolle Verführerin und Zauberin Alcina aus | |
ihrem Bewusstsein und damit buchstäblich in die Bühnenversenkung | |
verdrängen. Erleichtert atmet das Brautpaar auf, und der nunmehr geläuterte | |
Bräutigam Ruggiero scheint seinen Seitensprung überwunden zu haben. | |
Gemeinsam mit dem Chor stimmen sie die letzte Nummer des Abends an: „Was | |
bedeutet es, ein Mensch zu sein? Was unterscheidet ihn vom Tier?“ | |
„Alcina“ ist Georg Friedrich Händels berühmteste und zugleich | |
interessanteste Oper, in der aufklärerische Vernunft und irrationale | |
Leidenschaften aufeinanderprallen und die Verhältnisse der | |
Protagonist*innen gewaltig zum Tanzen bringen: Kreuzitter Ruggiero (Ulrike | |
Mayer) wird von der Zauberin Alcina (Marysol Schalit) auf ihre Insel | |
gelockt, wo sie ihn mit einem Liebeszauber belegt und ihn seine Verlobte | |
Bradamante (Candida Guida) vergessen lässt. Als sie ihm auf die Zauberinsel | |
folgt, verliebt sich Alcinas Schwester Morgana (Nerita Pokvytyte) in die | |
als Mann verkleidete Bradamante. Dumm nur, dass es auch noch Oronte (Luis | |
Olivares Sandoval), Morganas eigentlichen Geliebten, gibt, der von der | |
neuerlichen Schwärmerei seiner Angebeteten alles andere als begeistert ist. | |
Fahrt kommt in den Plot, als der eifersüchtige Oronte versucht, dem | |
liebestollen Ruggiero weiszumachen, dass Ricciardo/Bradamante eine Affäre | |
mit Alcina habe. So entspinnt sich ein Netz aus Eifersüchteleien, | |
ungezügelter Lust und Vernunftappellationen, die zur innerlichen | |
Zerrissenheit des Brautpaares Ruggiero und Bradamante führen. | |
Michael Talkes Inszenierung schafft es, den Opernstoff auf seine zeitlose | |
Essenz, eben diesen Konflikt zwischen bewusster Ratio und unbewusster | |
Leidenschaft, zu reduzieren. Und das trotz durchaus gegenwärtiger | |
Bildsprache: So wird das Brautpaar als ein ziemlich biederes Duo im grauen | |
Anzug vor ein Einfamilienhaus mit Mittelklassewagen eingeführt. Bis | |
plötzlich Alcina im aufreizenden rosa Kleid aus der Versenkung aufsteigt | |
und den Bräutigam neu ausstaffiert. Mit Sommerblumen, die ihm um die Arme | |
wachsen, um schließlich wie bei einer Vogelscheuche aus den Ärmeln zu | |
wuchern. Zur neuen Garderobe kommt eine gehörigen Portion Wollust. Im | |
Motorboot reist die Verlobte ihrem Ruggiero hinterher: auf die Zauberinsel | |
im tiefsten Inneren seiner Seele. Zwischen Männern, die von Alcina in einem | |
SM-Studio in Tiere verwandelt werden – ein sehr nüchternes Basteln ist das, | |
ein Maskenüberstülpen in Fetischklamotten. Dort jedenfalls versucht | |
Bradamante, ihren Ruggiero weg von der Insel und wieder in das Reich der | |
bürgerlichen Mittelschicht zu holen. | |
Talke schafft es mit Bravour, diese psychoanalytische Reise effektvoll | |
auszugestalten. Die Kostüme von Regine Standfuss arbeiten geschickt mit dem | |
Farbkontrast zwischen der bieder-grauen bürgerlichen Welt Bradamantes und | |
dem knallrosa Zauberreich Alcinas. Im Verlauf des Abends verblasst letztere | |
Farbpalette jedoch mit der schwindenden Zauberkraft Alcinas und die ehemals | |
prächtig leuchtenden Kleider werden zu farblosen, metzgerähnlichen Kutten. | |
Ausgesprochen stimmig ist das akzentuierte Bühnenbild von Thilo Reuter, das | |
die überbordende Zauberwelt Alcinas durch morbide Stillleben des | |
holländischen Malers Otto Marseus von Schriek konterkariert und damit den | |
barocken Vanitas-Gedanken zum Ausdruck bringt. | |
Auch musikalisch kann das Bremer Ensemble überzeugen. Alle Sänger*innen | |
führen ausdrucksstark und prononciert durch die Rezitative und | |
Dacapo-Arien. So werden die koloraturreichen Partien stimmlich mal | |
zärtlich-schwärmend, mal bitterböse enttäuscht interpretiert und geben den | |
Figuren eine ausdrucksstarke charakterliche Tiefe. Unter der musikalischen | |
Leitung von Marco Comin unterstützen die Bremer Philharmoniker die | |
Sänger*innen durch einen soliden barocken Klangteppich. Dabei fällt nicht | |
weiter ins Gewicht, dass das Barockorchester an einigen klanglichen | |
Unsauberkeiten nicht vorbei kommt. | |
Bei Händel wird Alcina von Ruggiero besiegt, ihr Zauber gebrochen und Moral | |
und Vernunft wieder hergestellt. In Bremen hingegen wird der Konflikt nicht | |
einfach einseitig aufgelöst, und die Spannung zwischen Lustbefriedigung und | |
sittlicher Bürgerlichkeit bleibt bis zum Schluss bestehen. Was bleibt, ist | |
ein äußerst kluger und sehenswerter Opernabend. | |
Wieder am 23. 11. und 6. 12., 19 Uhr, sowie am 15. 12., 18 Uhr, Theater | |
Bremen | |
23 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Cornelius Runtsch | |
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