# taz.de -- „Die Leute müssen zurück aufs Land“ | |
> Der US-amerikanische Kulturphilosoph und Bestsellerautor Charles | |
> Eisenstein glaubt, unsere Lösungsansätze für die Klimakrise sind Teil des | |
> Problems. Er plädiert für eine andere Wahrnehmung der Welt | |
Bild: Endzeitstimmung: Baustelle der Baihetan-Talsperre mit Wasserkraftwerk in … | |
Interview Laura Sophia Jung | |
taz: Herr Eisenstein, Sie haben Philosophie und Mathematik studiert. Jetzt | |
haben Sie ein Buch über die Klimakrise geschrieben. Warum? | |
Charles Eisenstein: Es war ein langer Weg von der Mathematik zum Klima. Ich | |
habe immer versucht zu verstehen, was in der Welt falsch läuft. Unsere | |
Zivilisation steht an einem Wendepunkt. Die Geschichten, die Paradigmen und | |
Methodologien, die uns definieren – sie alle brechen gerade zusammen. Mein | |
Buch soll eine Warnung sein. Unser Verständnis dafür, wie unser Planet | |
funktioniert, ist zu begrenzt. Begrenzt durch diese alten Paradigmen: | |
unseren Glauben an die Moderne, den Fortschritt, die Möglichkeit der | |
Beherrschung der Natur. Wenn jetzt Lösungsansätze aus diesen Ideologien | |
heraus entstehen, werden sie die Lage im Endeffekt verschlimmern. | |
Was ist daran schlecht, die Luftverschmutzung reduzieren zu wollen? | |
Wenn wir uns auf die CO2-Emissionen fokussieren, dann lassen wir alles | |
außen vor, was nicht gemessen werden kann. Ein Beispiel: Wir bauen einen | |
riesigen Damm, weil wir nachgerechnet haben, dass ein Wasserkraftwerk zwei | |
Gigawatt Energie produziert und somit zehn Kohlekraftwerke ersetzen kann. | |
Das spart x Tonnen CO2. Aber so viele Dinge sind in dieser Rechnung nicht | |
inbegriffen: Für den Dammbau werden unberührte Ökosysteme überflutet und | |
können kein CO2 mehr binden. Indigene Dorfbewohner*innen, die im | |
Einklang mit der Natur lebten, verlieren ihre Heimat. Wahrscheinlich landen | |
sie in Plattenbauten irgendwo in der Stadt, wo sie zu Konsument*innen | |
werden. Wie messen wir diese Veränderungen? Vogelwanderungen werden | |
unterbrochen, deshalb gelangen keine Nährstoffe mehr in die Wälder. Die | |
Wälder werden krank, und niemand versteht, warum. Der Grund ist die | |
ökologische Zerstörung durch den Dammbau – aber kommt das in der Rechnung | |
vor? | |
Was ist die Alternative? | |
Wir müssen verstehen, dass die Erde ein lebendiger Organismus ist. Und ihre | |
Gesundheit hängt von der Gesundheit ihrer Organe ab. Selbst wenn wir die | |
Emissionen auf null reduzieren: Wenn wir weiter die Böden abtragen, Wälder | |
roden, Wale töten, dann wird die Erde an Organversagen sterben. | |
Was sollten wir konkret tun? | |
Erstens: Wir sollten alle vorhandenen ursprünglichen Ökosysteme schützen | |
und erhalten. Das sind schließlich die intakten Organe unseres lebendigen | |
Planeten. Zweitens: Wir sollten heilen, was wir beschädigt haben. | |
Wiederaufforstung und regenerative Landwirtschaft sind der Schlüssel. | |
Drittens: Wir müssen aufhören, Pestizide, Herbizide, Insektizide, | |
Fungizide, all den giftigen und radioaktiven Abfall in der Natur abzuladen. | |
Denn diese Gifte greifen das Gewebe unseres Planeten an. Die Emissionen | |
durch fossile Brennstoffe zu reduzieren, wäre dann der vierte Punkt. Aber | |
wenn wir die ersten drei Punkte beachten, dann ergibt sich das sowieso. | |
Denn wenn wir jeden Ort, jedes Ökosystem als heilig erachten, heilen und | |
schützen, dann können wir nicht weiter nach Öl bohren oder Kohle abbauen. | |
Wer hat die Möglichkeit, diese Prioritäten durchzusetzen: die Streikenden | |
oder die Politiker*innen? | |
Ich glaube, es muss Hand in Hand gehen. Das Problem ist, dass viele | |
Menschen überhaupt nicht wissen, was sie genau tun sollen. Der Verzicht auf | |
fossile Brennstoffe ist bei unserem aktuellen Lebensstil quasi nicht | |
machbar. Ein Wechsel zu regenerativer Landwirtschaft und zu echtem | |
Umweltschutz hingegen schon. Was es da bräuchte, sind staatliche | |
Subventionen. Ökologische Landwirtschaft ist außerdem arbeitsintensiv. Das | |
heißt: Leute müssen zurück aufs Land – nicht zwingend als Bäuer*innen, | |
ein eigener Garten wäre auch schon ein wichtiger Schritt. Aktuell arbeiten | |
etwa ein Prozent der Menschen in den USA in der Landwirtschaft. Das ist | |
viel zu wenig. Landwirtschaft muss lokaler werden. Außerdem müssen wir | |
verstehen: Die Gesundheit des Bodens ist unsere Gesundheit. Wenn wir das | |
Land besser behandeln, wird es auch uns besser gehen. Wir stecken da alle | |
mit drin. | |
Werden wir überleben? | |
Überleben ist kein Problem. Wir könnten in einer Zukunft leben, in der der | |
ganze Planet ein riesiger Tagebau und Müllberg ist. Wir leben in Städten | |
wie in Seifenblasen. Dort gibt es Maschinen, die CO2 absaugen. Wir bleichen | |
den Himmel, um die Temperatur zu senken, und bauen unsere Nahrungsmittel in | |
Fabriken an. Alle sind die ganze Zeit drinnen. Die Natur ist tot, aber wir | |
haben riesige Bildschirme, auf denen wir in virtuellen Realitäten Natur | |
erleben können – zur Erholung. Was ist, wenn das die Zukunft ist, auf die | |
wir zusteuern? Das macht mir viel mehr Angst als ein mögliches Aussterben | |
der Menschheit. | |
Das klingt ja furchtbar. | |
Die Frage ist doch: Was muss sich ändern, damit wir die Verhaltensweisen | |
ändern, die uns an diesen Punkt gebracht haben? Ich glaube, wir müssen die | |
Erde anders sehen. Sie ist nicht einfach ein Haufen Ressourcen. Sie ist | |
lebendig, heilig, ein bewusstes Wesen. Sie verdient unsere Verehrung und | |
Liebe. Im Prinzip ist das eine Rückkehr zu den Wurzeln der Menschheit. Wenn | |
es uns gelingt, unsere Wahrnehmung zu ändern – unsere Wahrnehmung von der | |
Welt, in der wir leben, aber auch von uns selbst – dann ist alles möglich. | |
Auch eine Zukunft in einer lebendigen Welt. | |
Charles Eisenstein: „Klima. Eine neue Perspektive“. Europa Verlag, München | |
2019, 400 Seiten, 22 Euro | |
15 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Laura Sophia Jung | |
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