# taz.de -- Spekulationen über den Fall Mert Çokluk: Tod eines türkischen St… | |
> Am Erlanger Bahnhof stirbt ein junger Mann aus der Türkei. Dass Polizei | |
> und Medien darüber schweigen, weckt Zweifel in der türkischen | |
> Öffentlichkeit. | |
Bild: In den sozialen Medien wird darüber spekuliert, was am Erlanger Bahnhof … | |
Für gewöhnlich berichten deutsche Medien nicht über Suizide, weil das zu | |
Nachahmungen führen kann. Doch im Fall des türkischen Studenten Mert | |
Çokluk, der am 5. Oktober am Erlanger Bahnhof tot auf den Gleisen gefunden | |
wurde, führte ausgerechnet die Zurückhaltung von Medien und Polizei dazu, | |
dass der Tod des Studenten in den türkischen Medien Aufsehen erregte. | |
Der 24-jährige Student aus dem westtürkischen Bursa war kurz davor gewesen, | |
sein Masterstudium an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen | |
abzuschließen. Im November hätte Mert Çokluk in den Niederlanden sein | |
Promotionsstudium begonnen. Seine Familie, die in Bursa lebt, erfuhr erst | |
fünf Tage später von seinem Tod. Am 12. Oktober wurde er in Bursa beerdigt. | |
Mert Çokluks Tod erschütterte seine Familie tief. Weil die Familie nach | |
eigenen Worten vom türkischen Generalkonsulat in Nürnberg und den deutschen | |
Behörden nicht ausreichend Informationen erhielt, musste sie sich auf die | |
ungesicherten Informationen von in Deutschland lebenden Bekannten | |
verlassen. Diese Informationen teilte sie mit der Presse. | |
Der Tod des Studenten, über den oppositionelle und regierungsnahe Zeitungen | |
gleichermaßen berichteten, warf viele Fragen auf. Für die Journalist*innen | |
und türkeistämmige Menschen, die sich in den sozialen Medien äußerten, gab | |
es in dem Fall unzählige Ungereimtheiten: Warum benachrichtigte das | |
türkische Generalkonsulat in Nürnberg die Familie erst fünf Tage nach | |
Çokluks Tod? Warum tauchte in den deutschen Medien keine Nachricht über das | |
Ereignis auf? Gab es Spuren von Gewalt? Versuchte die Polizei, etwas zu | |
vertuschen? | |
Die Ungewissheit ließ Raum für unzählige Spekulationen in der türkischen | |
Berichterstattung und den sozialen Medien: Wurde Çokluks Leichnam von einem | |
anderen Ort an den Bahnhof gebracht? Brach am gleichen Tag zur gleichen | |
Zeit ein Feuer am Bahnhof Erlangen aus? War der Brief, der bei Çokluk | |
gefunden wurde, tatsächlich ein Abschiedsbrief? Was konnte der Grund dafür | |
sein, dass der Student, der wenige Tage später sein Masterstudium | |
abgeschlossen und in den Niederlanden seine Promotion angefangen hätte, | |
sich das Leben nimmt? Waren Çokluks Telefon und Computer verschwunden? Gab | |
es eine Verbindung zu einem anderen Erasmus-Studenten aus der Türkei, der | |
sich im Juli umgebracht hatte? | |
## Bahnhof wegen Notarzteinsatz gesperrt | |
Die Nachrichten, die in den türkischen Medien erschienen, verunsicherten | |
andere türkische Studenten, die in Deutschland studieren. Çokluk hatte | |
nicht viele Freund*innen in Deutschland. Eine Gruppe türkischer | |
Studierender, die ihn nicht persönlich kannte, forderte unter dem Hashtag | |
#mertçoklukgizemlicinayeti (Der mysteriöse Mord an Mert Çokluk) Aufklärung. | |
Alperen Gündoğan, der in München studiert und Mert Çokluk nicht persönlich | |
kannte, war höchst alarmiert durch die Nachricht von dessen Tod. „Das | |
Schlimmste war, dass es einfach keine Stellungnahme gab“, sagt Gündoğan. | |
„Deshalb haben wir gedacht, es kann alles mögliche gewesen sein außer | |
Selbstmord.“ | |
Der Pressekodex gebietet bei der Berichterstattung über Suizide | |
Zurückhaltung zum Schutz der Persönlichkeit. Das gilt vor allem für „die | |
Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung | |
näherer Begleitumstände“. Auch die Polizei gibt keine Details zu den | |
Umständen preis. Deshalb erschien in bayerischen Medien am Tag von Mert | |
Çokluks Tod nur die kurze Nachricht, dass der Erlanger Bahnhof am Morgen | |
des 5. Oktobers wegen eines Notarzteinsatzes für mehrere Stunden gesperrt | |
worden sei. | |
Dass die deutschen Behörden und Medien keine Erklärung abgaben, die die | |
Öffentlichkeit befriedigen konnte, führte dazu, dass immer mehr | |
Behauptungen aufgestellt wurden. Medienberichte, die auf den Aussagen einer | |
Quelle beruhten, führten zu Misinformationen. Der CHP-Abgeordnete Erkan | |
Aydın brachte am 18. Oktober zu dem Fall eine Anfrage im türkischen | |
Parlament ein, in der er gar behauptete, es sei bestätigt worden, dass | |
Çokluk gefoltert wurde. | |
Erst 16 Tage nach dem Vorfall, am 21. Oktober, äußerte das türkische | |
Konsulat in Nürnberg sich schriftlich: „Die Aufklärung dieses | |
erschütternden Falles muss durch konkrete Befunde der ermittelnden Behörden | |
geschehen. Unbestätigte, spekulative Meldungen und Verschwörungstheorien | |
führen nicht zur Wahrheit.“ | |
## Zwei Nächte raubte ihm der Fall den Schlaf | |
Mert Çokluks Vater Bekir tut sich schwer, den Tod seines Sohnes zu | |
verstehen. Am 22. Oktober sagte er taz gazete: „Wir haben keine | |
Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, uns umzuschauen und Fragen zu | |
stellen. Wir haben keine verlässlichen Informationen bekommen“, und fügte | |
hinzu: „Was wir vom Hörensagen erfahren, überzeugt uns nicht. Wir warten | |
auf den Autopsiebericht.“ | |
Als der langjährige Deutschlandkorrespondent Mustafa Akbaba vom Tod Mert | |
Çokluks erfuhr, beschloss er die Hintergründe zu recherchieren. Zwei Nächte | |
raubte ihm der Fall den Schlaf. Er sprach mit Bahnhofspersonal, | |
ermittelnden Beamten und der Feuerwehr. Dann schrieb er einen Artikel, in | |
dem er begründete, warum er den Fall für einen Suizid hält. Der | |
Pressesprecher der Polizei Mittelfranken habe ihm bestätigt, dass sämtliche | |
Indizien ebenso wie die Aussagen von Augenzeugen dafür sprachen, dass der | |
Student sich das Leben genommen hatte. | |
Taz gazete gegenüber sagte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, nach | |
ihren Erkenntnissen liege kein Fremdverschulden vor. „Die polizeilichen | |
Ermittlungen zeigen, dass es eindeutig Suizid war.“ | |
Akbaba zufolge wurde bei Çokluk zudem ein achtseitiger Abschiedsbrief | |
gefunden. Dieser sei bei der Polizei von einem türkeistämmigen Beamten auf | |
Deutsch übersetzt worden und werde dann der Familie geschickt. Für den | |
Journalisten ist Misinformation ein wichtiger Grund dafür, dass der Fall in | |
der Türkei so hohe Wellen geschlagen hat. „Von der Türkei aus über | |
Deutschland zu schreiben, ist leicht. Wenn die deutschen Behörden keine | |
Informationen herausgeben, entsteht Raum für unterschiedlichste Ideen.“ | |
Akbaba fürchtet, die Eltern des toten Studenten werden von ihrem Umfeld auf | |
falsche Fährten gebracht. „Bei all ihrem Schmerz ist das zusätzlich | |
belastend. Der Sohn war ein erfolgreicher Student an der Middle Eastern | |
Technical University. Die Eltern sind Bauern. Sie hatten riesige | |
Erwartungen an ihn“, sagt er. | |
## Bei jedem Todesfall entsteht ein Fragezeichen | |
Auf die Spekulationen, die in den sozialen Medien kursierten, reagierte die | |
Polizei Mittelfranken, die sich lange zurückgehalten hatte, am 23. Oktober: | |
„Bitte keine Verschwörungstheorien! Suizid ist ein tragisches Ereignis, das | |
die Intimsphäre des Verstorbenen betrifft. Unsere Ethik verbietet die | |
öffentliche Diskussion. Wenn es Aspekte gibt, die öffentl. berichtet werden | |
können/müssen, machen wir das. Wenn nicht, hat das Gründe!“ | |
Doch hinter dieser Verunsicherung und den Spekulationen stehen neben der | |
Rolle der Medien auch die realen Erfahrungen einer Kontinuität | |
rassistischer Gewalttaten in diesem Land. Akbaba sieht die NSU-Morde als | |
einen Grund für das fehlende Vertrauen vieler türkeistämmiger Deutscher in | |
die Behörden: „Wenn zum Beispiel der Verfassungsschutz in Hessen seine | |
NSU-Akten 120 Jahre unter Verschluss halten will, dann entsteht mit jedem | |
Todesfall automatisch ein Fragezeichen im Kopf der Menschen“, sagt er. | |
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Nürnberg, Bülent Bayraktar, | |
wurde vielfach auf den Fall angesprochen. Dass der Tod des türkischen | |
Studenten die türkeistämmige Community sehr verunsicherte, führt auch er | |
auf die NSU-Morde zurück. Drei der zehn NSU-Opfer wurden in Nürnberg | |
ermordet. „Nürnberg ist tief in die NSU-Mordserie verstrickt. Das Vertrauen | |
in die Polizei ist sehr angekratzt“, sagt Bayraktar. „Da kommen immer | |
wieder Fragezeichen auf, wenn etwas nicht gut kommuniziert wird.“ Wenn die | |
Fragen nicht beantwortet würden, entstünden Verschwörungstheorien, sagt er, | |
im Netz werde alles mögliche interpretiert. „Ich habe mich natürlich auch | |
zuerst gefragt, warum es so lange dauert, bis man die Eltern in der Türkei | |
informiert. Aber wenn man sich die Sachverhalte dann nüchtern ansieht, | |
ergibt alles wieder Sinn.“ | |
Die Suche nach Angehörigen habe sich für die Polizei schwierig gestaltet, | |
da Çokluk offenbar keine Verwandten oder nahen Bezugspersonen in | |
Deutschland hatte. „Weil es sich höchstwahrscheinlich um Suizid handelt, | |
sind die Polizei und das Generalkonsulat sehr zurückhaltend mit | |
Informationen“, erklärt Bayraktar. „Der Grund, warum der Fall in den | |
sozialen Medien und in den türkischen Medien eskaliert ist, war | |
wahrscheinlich die sparsamen Informationen, die sowohl die Polizei als auch | |
das Generalkonsulat in Nürnberg preisgegeben haben.“ | |
Bis heute wird er angerufen und gefragt, warum die Türkische Gemeinde in | |
dem Fall nichts unternehme. Er antwortet dann, dass die Türkische Gemeinde | |
die Ergebnisse der Autopsie in der Türkei abwarte. „Nur das kann Aufschluss | |
geben. Alles andere ist Spekulation“, sagt er und fügt hinzu: „Falls der | |
Autopsiebericht andere Ergebnisse hervorbringen sollte, können wir als | |
Verein Druck auf die Behörden ausüben, in die Tiefe zu ermitteln.“ | |
Übersetzung: Oliver Kontny | |
Normalerweise berichten wir nicht über Suizide. Dies gibt der Pressekodex | |
vor: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies | |
gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos | |
und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Dadurch soll auch verhindert | |
werden, dass es Nachahmer gibt. Ausnahmen sind zu rechtfertigen, wenn es | |
sich um Vorfälle der Zeitgeschichte oder von erhöhtem öffentlichen | |
Interesse handelt. Deshalb haben wir uns entschieden, über diesen Fall zu | |
berichten. | |
Sollten Sie Suizidgedanken haben, so wenden Sie sich bitte an | |
professionelle Helferinnen und Helfer. Diese finden Sie jederzeit beider | |
Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder auch unter | |
www.telefonseelsorge.de. | |
25 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Ali Çelikkan | |
Elisabeth Kimmerle | |
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