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# taz.de -- Solo für 60 Frauen und einen Punk
> Das Künstlerkollektiv „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ lässt mit dem „The…
> der Revolution“ die Demonstration des 4. November 1989 in einer
> Performance am Alexanderplatz, am Ort des Geschehens, wiederaufleben
Bild: Susann Neuenfeldt (links) und Maike Möller-Engemann am Alexanderplatz
Von Inga Dreyer
Als Susann Neuenfeldt am 4. November 1989 in Schwedt an der Oder vor dem
Fernseher saß, war sie enttäuscht. Da demonstrierte auf dem Berliner
Alexanderplatz eine schier unfassbare Zahl an Menschen für Presse-,
Meinungs- und Versammlungsfreiheit und wagte, Kritik an der Obrigkeit zu
äußern. Doch die Jugendliche empfand diese erste genehmigte nichtstaatliche
Demonstration der DDR als lethargisch. „Wo ist da Wut? Wo ist da Freude?“,
fragte sie sich.
Heute, beinahe 30 Jahre später, hat sich die 1974 in Schwedt geborene
Regisseurin mit ihrem Künstlerkollektiv „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ (PKRK)
auf die Suche nach verschüttgegangenen Emotionen begeben. Am 4. November
lassen sie dieses zentrale Ereignis der friedlichen Revolution auf dem
Alexanderplatz wiederaufleben – mit 60 Frauen und einem Punk. Ihr „Theater
der Revolution“ ist Teil der Festwoche anlässlich des 30. Jahrestags der
friedlichen Revolution und des Mauerfalls. Kooperationspartner sind die
Bundeszentrale für politische Bildung und die Kulturprojekte Berlin GmbH.
Die historische Situation wird dabei nicht nachgespielt, sondern mit
künstlerischen Mitteln neu interpretiert. Die Inszenierung arbeitet mit
Schauspiel, Sound und Tanz. Als einziger Mann ist der Punkrocker Hans
Narva mit dabei, dessen Musik direkt den emotionalen Stress jener Zeit
treffe, sagt Susann Neuenfeldt. Die Tänzerinnen unterschiedlichen Alters
sind jedoch alle weiblich – eine bewusste Entscheidung des
Künstlerkollektivs. Auf den historischen Aufnahmen sähe man viele Männer
mit Bärten, sagt Susann Neuenfeldt und erklärt: „Wir wollen keine männliche
Aufbruchstimmung zeigen. Unser Protest heute ist weiblich, körperlich und
gewaltig.“
Damit schlagen die Künstler*innen eine Brücke ins Jetzt. Grundlage bilden
die historischen Reden. „Aber wir setzen auf künstlerische Verfremdung“,
berichtet die Regisseurin.
Gregor Gysi wird von zwei jungen Frauen gespielt, die Rede Günter
Schabowskis wird als Drum-Act am Schlagzeug umgesetzt – und eine 14-jährige
Fridays-for-Future-Aktivistin hat die Rede von Marianne Birthler neu
interpretiert. Die Choreografin Maike Möller-Engemann schlüpft in die Rolle
des Dramatikers Heiner Müller. „So hat jede Rede hat ihre eigene
Geschichte“, sagt Neuenfeldt.
Der 4. November gilt als Wegmarke der friedlichen Revolution. Bei der
Kundgebung sprachen bekannte Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen,
Bürgerrechtler*innen und Parteifunktionäre – neben Gregor Gysi auch die
Schriftsteller Christa Wolf, Heiner Müller und der Schauspieler Ulrich
Mühe. Im offiziellen Gedenken aber stehe dieser Tag im Schatten des 9.
November. Der 4. November werde vom Mauerfall überschrieben, erklärt Susann
Neuenfeldt. „Wir wollen diesen Tag emotional wiederbeleben.“
Dabei sollen die Ambivalenzen und der Wirrwarr der Gefühle aufgegriffen
werden, betont die Regisseurin. Dazu gehören auch enttäuschte und kritische
Stimmen. „Mich interessieren Emotionen, die im offiziellen Diskurs nicht
vorkommen“, sagt sie.
Das Künstlerkollektiv sprach mit Zeitzeug*innen, um „emotionale Reste aus
der Protestkultur“ zu erforschen. Eine Sorge der Theatermacher*innen ist,
dass sich diese als anschlussfähig für Neue Rechte erweisen könnten. Auch
das sei ein Grund, warum sie sich des Themas annehmen wollen, erklären
Susann Neuenfeldt und Maike Möller-Engemann.
Im künstlerischen Prozess kamen unterschiedliche Perspektiven zusammen,
denn PKRK besteht aus älteren und jüngeren, ost- und westsozialisierten
Künstler*innen. Maike Möller-Engemann war 1989 erst acht Jahre alt und hat
im Rheinland, wo sie aufgewachsen ist, vom 4. November damals nichts
mitbekommen. An den Mauerfall hingegen erinnert sie sich – und an den
Ausspruch ihrer Mutter: „Gott sei Dank, die armen Menschen!“ Doch
tatsächlich war nicht alles plötzlich „Friede, Freude, Eierkuchen“. Im
Austausch mit Zeitzeugen tasteten sich die die Künstler*innen an die
Erlebnisse, Gefühle und Ambitionen der damaligen Zeit heran. PKRK
beschäftigt sich seit seiner Gründung 2009 mit Themen, die mit der DDR, dem
Kalten Krieg und Postsozialismus zu tun haben.
An heikle Stoffe sind sie gewöhnt. Sie wissen, dass sie es trotz der
präsentierten Vielstimmigkeit nicht allen recht machen können – und wollen
das auch gar nicht. Trotzdem habe sie sich die Frage gestellt, ob sie als
Teil der „3. Generation Ost“ das Recht habe, die
Alexanderplatz-Demonstration künstlerisch zu bearbeiten, erzählt Susann
Neuenfeldt.
Das Projekt ist aus verschiedenen Gründen ein Wagnis. Zum ersten Mal spiele
„Panzerkreuzer Rotkäppchen“ in dieser Größe open air, erzählt Maike
Möller-Engemann. Erstmals werden Reden inszeniert und keine Dialoge.
Außerdem warten viele Unbekannte auf das Künstlerkollektiv und die
Tänzerinnen. Das Publikum ist als Teil der demonstrierenden Masse
eingeladen, mitzumachen und Plakate mitzubringen. Welche Reaktionen und
Emotionen die Inszenierung bei den Zuschauer*innen auslösen wird, wird
sich bei der ersten und zugleich letzten Aufführung zeigen. Eines aber
wisse sie schon, sagt Maike Möller-Engemann: „Es wird unerwartet und
überraschend sein.“
„4-11-89 Theater der Revolution“, 4. November, Alexanderplatz, 17.30 Uhr,
Eintritt frei, www.4november89.de
1 Nov 2019
## AUTOREN
Inga Dreyer
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