# taz.de -- Tod eines türkischen Studenten | |
> Weil die deutschen Medien nicht über den Tod eines türkischen Studenten | |
> am Erlanger Bahnhof berichteten, erregte der Fall in den türkischen | |
> Medien viel Aufsehen. Was war passiert? | |
Bild: In den sozialen Medien wird darüber spekuliert, was am Bahnhof Erlangen … | |
Von Ali Çelikkan und Elisabeth Kimmerle | |
Für gewöhnlich berichten deutsche Medien nicht über Suizide, weil das zu | |
Nachahmungen führen kann. Doch im Fall des türkischen Studenten Mert | |
Çokluk, der am 5. Oktober am Erlanger Bahnhof von einem Zug erfasst wurde, | |
führte ausgerechnet die Zurückhaltung von Medien und Polizei dazu, dass der | |
Tod des Studenten in den türkischen Medien viel Aufsehen erregte. | |
Der 24-jährige Mert Çokluk aus dem westtürkischen Bursa war kurz davor | |
gewesen, sein Masterstudium an der Friedrich-Alexander-Universität in | |
Erlangen abzuschließen. Im November hätte er in den Niederlanden sein | |
Promotionsstudium begonnen. Seine Familie, die in Bursa lebt, erfuhr erst | |
fünf Tage später von seinem Tod. Am 12. Oktober wurde er in Bursa beerdigt. | |
Mert Çokluks Tod hat seine Familie tief erschüttert. Weil die Familie vom | |
Konsulat und den deutschen Behörden nicht ausreichend informiert wurde, | |
musste sie sich auf die ungesicherten Informationen von in Deutschland | |
lebenden Bekannten verlassen. Diese Informationen teilte sie mit der | |
Presse. | |
## Ungewissheit lässt Raum für Spekulationen | |
Der Tod des Studenten, über den oppositionelle und regierungsnahe | |
Zeitungen gleichermaßen berichteten, warf viele Fragen auf. Für die | |
Journalist*innen und türkischstämmigen Menschen, die sich in den sozialen | |
Medien äußerten, gab es in dem Fall unzählige unbeantwortete Fragen: Warum | |
benachrichtigte das Türkische Generalkonsulat in Nürnberg die Familie erst | |
fünf Tage nach Çokluks Tod? Warum tauchte in den deutschen Medien keine | |
Nachricht über das Ereignis auf? Gab es Spuren von Gewalt? Versuchte die | |
Polizei, etwas zu vertuschen? Die Ungewissheit ließ Raum für Spekulationen | |
in den türkischen Medien: Wurde Çokluks Leichnam von einem anderen Ort an | |
den Bahnhof gebracht? Brach am gleichen Tag zur gleichen Zeit ein Feuer am | |
Bahnhof Erlangen aus? War der Brief, der bei Çokluk gefunden wurde, | |
tatsächlich ein Abschiedsbrief? Was konnte der Grund dafür sein, dass der | |
Student, der wenige Tage später sein Masterstudium abgeschlossen und in | |
Delft seine Promotion angefangen hätte, sich das Leben nahm? | |
Die Nachrichten, die in den türkischen Medien erschienen, verunsicherten | |
andere türkische Studenten, die in Deutschland studieren. Eine Gruppe | |
türkischer Studierender, die ihn nicht persönlich kannte, forderte unter | |
dem Hashtag #mertçoklukgizemlicinayeti (Der mysteriöse Mord an Mert Çokluk) | |
Aufklärung. Çokluk hatte nicht viele Freund*innen in Deutschland. Alperen | |
Gündoğan studiert in München. Auch er ist höchst alarmiert durch die | |
Nachricht vom Tod Mert Çokluks, den er nicht persönlich kannte. „Das | |
Schlimmste war, dass es einfach keine Stellungnahme gab“, sagt Gündoğan. | |
„Deshalb haben wir gedacht, es kann alles Mögliche gewesen sein außer | |
Selbstmord.“ | |
Der Pressekodex gebietet bei der Berichterstattung über Suizide zum Schutz | |
der Persönlichkeit Zurückhaltung. Das gilt vor allem für „die Nennung von | |
Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer | |
Begleitumstände“. Auch die Polizei gibt keine Details der Umstände preis. | |
In bayerischen Medien erschien am Tag von Mert Çokluks Tod die kurze | |
Nachricht, dass der Erlanger Bahnhof am Morgen des 5. Oktober wegen eines | |
Notarzteinsatzes für mehrere Stunden gesperrt worden sei. | |
Dass die deutschen Behörden und Medien keine Erklärung abgaben, die die | |
Öffentlichkeit befriedigen konnte, führte dazu, dass immer mehr | |
Behauptungen aufgestellt wurden. Medienberichte, die auf den Aussagen einer | |
Quelle beruhten, führten zu Desinformationen. Erst 16 Tage nach dem | |
Vorfall, am 21. Oktober, äußerte sich das türkische Konsulat in Nürnberg | |
schriftlich: „Die Aufklärung dieses erschütternden Falles muss durch | |
konkrete Befunde der ermittelnden Behörden geschehen. Unbestätigte, | |
spekulative Meldungen und Verschwörungstheorien führen nicht zur Wahrheit.“ | |
Mert Çokluks Vater Bekir tut sich schwer, den Tod seines Sohnes zu | |
verstehen. Am 22. Oktober sagte er der taz gazete: „Wir haben keine | |
Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, uns umzuschauen und Fragen zu | |
stellen. Wir haben keine verlässlichen Informationen bekommen“, sagt er. | |
„Was wir vom Hörensagen erfahren, überzeugt uns nicht. Wir warten auf den | |
Autopsiebericht.“ | |
## Bei jedem Todesfall entsteht ein Fragezeichen | |
Mustafa Akbaba arbeitet seit Langem als Deutschlandkorrespondent für die | |
türkische Presse. Als er vom Tod Mert Çokluks erfuhr, beschloss er, die | |
Hintergründe zu recherchieren. Für zwei Nächte raubte ihm der Fall den | |
Schlaf. Er sprach mit Bahnhofspersonal, ermittelnden Beamten und der | |
Feuerwehr. Dann schrieb er einen Artikel, in dem er begründete, warum er | |
den Fall für einen Suizid hält. Der Pressesprecher der Polizei | |
Mittelfranken habe ihm bestätigt, dass sämtliche Indizien ebenso wie die | |
Aussagen von Augenzeugen dafür sprachen, dass der Student sich das Leben | |
genommen hatte. taz gazete gegenüber sagte die Staatsanwaltschaft | |
Nürnberg-Fürth, nach ihren Erkenntnissen liege kein Fremdverschulden vor. | |
„Die polizeilichen Ermittlungen zeigen, dass es eindeutig Suizid war.“ Für | |
Akbaba ist Desinformation ein wichtiger Grund dafür, dass der Fall in der | |
Türkei so hohe Wellen geschlagen hat. „Wenn die deutschen Behörden keine | |
Informationen herausgeben, entsteht Raum für unterschiedlichste Ideen.“ | |
Akbaba befürchtet, dass die Eltern des toten Studenten von ihrem Umfeld auf | |
eine falsche Fährte gebracht werden. „Bei all ihrem Schmerz ist das | |
zusätzlich belastend“, sagt er. | |
Auf die Spekulationen, die in den sozialen Medien kursierten, reagierte | |
die Polizei Mittelfranken, die sich lange zurückgehalten hatte, am 23. | |
Oktober: „Bitte keine Verschwörungstheorien! Suizid ist ein tragisches | |
Ereignis, das die Intimsphäre des Verstorbenen betrifft. Unsere Ethik | |
verbietet die öffentliche Diskussion. Wenn es Aspekte gibt, die öffentl. | |
berichtet werden können/müssen, machen wir das. Wenn nicht, hat das | |
Gründe!“ | |
Doch hinter dieser Verunsicherung und den Spekulationen stehen neben der | |
Rolle der Medien auch die realen Erfahrungen einer Kontinuität | |
rassistischer Gewalttaten in diesem Land. Akbaba sieht die NSU-Morde als | |
einen Grund für den Mangel an Vertrauen vieler türkischstämmiger Deutscher | |
in die Behörden: „Wenn zum Beispiel der Verfassungsschutz in Hessen seine | |
NSU-Akten 120 Jahre unter Verschluss halten will, dann entsteht mit jedem | |
Todesfall automatisch ein Fragezeichen im Kopf der Menschen“, sagt er. | |
26 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Ali Çelikkan | |
Elisabeth Kimmerle | |
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