# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Gloria Reményi: Leichenschmaus mit grü… | |
Ein Glas eingelegter grüner Paprika liegt in einem Karton auf der Straße. | |
Daneben ein paar Äpfel, Brot sowie eine Kiste voll von nicht mehr ganz | |
gesund aussehenden Gurken. „Brauchst du Gurken?“, fragt ein Kind seine | |
Mutter im Vorbeigehen. Wie von so viel Verfall angeekelt, schüttelt diese | |
als Antwort nur kräftig den Kopf. | |
Samstagnachmittag, Boxhagener Platz. An der Ecke zwischen Gärtner- und | |
Grünberger Straße spielt sich gerade der letzte Akt einer Trauerfeier ab. | |
Bei den auf den Gehweg gestellten Lebensmitteln handelt es sich nämlich um | |
keine Überbleibsel des Wochenmarkts, sondern um die letzten Habseligkeiten | |
des Café Szimpla. Zusammen mit ein paar abgenutzten Kühlschränken, | |
angeschlagenem Geschirr und verstaubten Dekorationen liegen sie nun vor der | |
Tür des Lokals zum Mitnehmen bereit. All das will das Szimpla loswerden, | |
denn nach elf Jahren Betrieb wird hier dichtgemacht. Und zwar für immer. | |
Die Nachricht traf mich unvorbereitet. Die nostalgischen Posts, die in | |
letzter Zeit auf dem Instagram-Account des Lokals aufgetaucht waren, kamen | |
mir zwar etwas verdächtig vor. Doch die Schließung des Szimpla war kein | |
Gedanke, auf den ich jemals hätte kommen können. Im Laufe meiner sieben | |
Jahre in Berlin war das als kleiner Ableger des Szimpla Kert in Budapest | |
gegründete Café zu einer Art Fortsetzung meines Wohnzimmers geworden. | |
Gelegentlich verwandelte es sich sogar in mein Büro, wenn mir das Schreiben | |
zu Hause zu einsam wurde. Die Einrichtung strahlte einen ungewollt | |
dekadenten Charme aus, die Stimmung war angenehm unaufgeregt, der Kaffee | |
ganz in Ordnung. | |
Am 19. Oktober öffnete das Szimpla ein allerletztes Mal seine Türen und | |
rief eine „Closing Party mit Leichenschmaus“ aus. Von Nostalgie ergriffen, | |
fand ich den schwarzen Humor zuerst unangebracht. Statt an Feiern, gingen | |
meine wehmütigen Gedanken eher an den Duft des ungarischen Salzgebäcks | |
Pogácsa, der hier spätnachmittags immer in der Luft lag. Doch jetzt merke | |
ich, wie sich hier irgendwie auch ein Kreis schließt, denn mein erster | |
Szimpla-Besuch stand ganz im Zeichen des schwarzen Humors. Was mich vor | |
sieben Jahren zum ersten Mal hierherzog, war nämlich eine Lesung aus den | |
„Minutennovellen“ des ungarischen Schriftstellers István Örkény. In dies… | |
in der Nachkriegszeit entstandenen Werken porträtiert Örkény mit zynischem | |
Witz und in komprimierter Form die Absurdität und Tragik des Lebens anhand | |
scheinbar banaler Alltagsszenen. Tod ist dabei ein allgegenwärtiges Motiv | |
und interessanterweise ist in einer Novelle – „Verhängnis“ – von einem | |
Leichenschmaus die Rede, auf dem die Trauergäste giftiges Pogácsa essen und | |
somit den Verstorbenen in den Tod folgen. | |
Das Leichenschmaus des Szimpla verlief hingegen friedlich. Pogácsa wurde an | |
dem Abend nicht serviert, sondern nur Alkohol in beträchtlichen Mengen. Von | |
Letzterem zeugen einige Aufschriften, die nach der Party an den Wänden des | |
Cafés aufgetaucht sind. Eine davon: „Where is the WC?“. Ich schaue nun | |
durch das Fenster des geschlossenen Szimpla hindurch. Das Tagesmenü, | |
„Strudel oder Lecsó + Süppchen“, ist immer noch an der Tafel am Tresen zu | |
lesen. Alles andere im Raum ist schon nicht mehr, wie es noch bis vor zehn | |
Tagen war. Möbel und Küchengeräte befinden sich leblos aufeinandergestapelt | |
am Eingang. Die ruhige Ecke, die sich als Arbeitsplatz prima eignete, sieht | |
jetzt wie ein Lagerraum aus. An die Tafel, die draußen neben der Tür hängt | |
und an der früher die Speisekarte angebracht war, hat jemand eine Botschaft | |
hinterlassen: „Let it go“, lese ich, unterbreche meine Abschweifungen und | |
merke dabei, dass das Glas eingelegter Paprika inzwischen verschwunden ist. | |
29 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Gloria Reményi | |
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