# taz.de -- Offensive in Nordsyrien: „Nicht das, was Erdoğan sich erhoffte“ | |
> Journalist Fehim Taştekin über die Ziele der türkischen Offensive, die | |
> mutmaßliche Reaktion der kurdischen Verbände und ein mögliches Revival | |
> des IS. | |
Bild: Milizen der „Freien Syrischen Armee“ rücken im Auftrag der Türkei i… | |
Seit Mittwochnachmittag kämpfen die türkischen Streitkräfte gegen die | |
Demokratischen Kräfte Syriens (DKS). Die Verbände unter Federführung der | |
kurdischen YPG/YPJ waren bisher Verbündete der USA. Die Türkei wird von der | |
islamistisch ausgerichteten Freien Syrischen Armee (FSA) unterstützt. Worum | |
es bei der Offensive genau geht, was das für die Kurd*innen in der Region | |
heißt und was aus den kriegsgefangenen IS-Kämpfer*innen werden soll, haben | |
wir Fehim Taştekin gefragt. Der Journalist gilt als einer der wichtigsten | |
Syrienexperten in den unabhängigen türkischen Medien. | |
Taz.gazete: Herr Taştekin, was ist das Ziel der „Operation Friedensquell?“ | |
Fehim Taştekin: Die Türkei will eine Pufferzone einrichten. Erdoğan stellt | |
sie sich als ein riesiges Gebiet vor. Die Offensive soll 480 Kilometer der | |
türkisch-syrischen Landgrenze abdecken. Erdoğan will 32 Kilometer tief ins | |
Landesinnere vordringen. Das würde sogar noch das Projekt „Arabischer | |
Gürtel“ in den Schatten stellen, das 1962 vom syrischen Baath-Regime | |
umgesetzt wurde, um die Präsenz von Kurd*innen an der syrischen Nordgrenze | |
zu schwächen. Was Erdoğan will, ist, die Kurd*innen in dieser Zone | |
auszuradieren. | |
Die Offensive begann zunächst im überschaubaren Gebiet zwischen Tel Abyad | |
und Ras ul-Ayn. | |
Die gemeinsame Kommandozentrale der Türkei und der USA hat zunächst die | |
Verteidigungspositionen in diesen beiden Gegenden ausgeschaltet. Sozusagen | |
die Minenfelder geräumt. Es sind zwei Gegenden, in denen nicht viele | |
Kurd*innen leben. Insbesondere Tel Abyad ist eigentlich eine arabische | |
Siedlung und deshalb als erster Punkt ausgewählt worden. Erdoğan erwartet | |
von den Araber*innen keinen Widerstand gegen das türkische Vordringen. | |
Wird die Offensive ähnlich ausgehen wie bisherige türkische Vorstöße nach | |
Nordsyrien? | |
Das Gebiet östlich des Euphrat birgt für die Türkei ungleich höhere Risiken | |
als Afrin, das ja eine isolierte kurdische Enklave war. Afrin wurde von | |
allen Seiten belagert und konnte binnen zwei Monaten eingenommen werden. | |
Während die Türkei das tat, waren die Demokratischen Kräfte Syriens als | |
Koalitionspartner der USA in den Krieg gegen den Islamischen Staat um Raqqa | |
eingebunden. Daher beugten sich die DKS den Bedenken der USA und zogen sich | |
aus Afrin zurück, um eine direkte Konfrontation der Koalition mit den | |
türkischen Streitkräften zu vermeiden. Ein Argument dabei war, dass es | |
darauf ankomme, die vom IS befreiten Gebiete östlich des Euphrat zu halten. | |
Und genau die sind jetzt bedroht. Damit stehen sämtliche Errungenschaften | |
der Kurd*innen in Syrien in Frage. Sie werden sich also anders verhalten | |
als in Afrin. Der Kommandant der Demokratischen Kräfte Syriens, Mazlum | |
Kobani, spricht davon, dass sie den Krieg geographisch ausweiten werden. | |
Das verheißt ein ziemlich schlimmes Szenario. Die Kurd*innen haben im Krieg | |
gegen den IS über 11.000 Menschen verloren, sie werden sich jetzt sicher | |
nicht so verhalten wie in Afrin. | |
Warum hat die Türkei allen internationalen Warnungen zum Trotz diese | |
Offensive gestartet? | |
Um die osmanische Tradition des demographischen Wandels weiterzuführen. Das | |
kann man ja in Afrin sehen: Es ist ein lupenreines koloniales Projekt. Ein | |
Verstoß gegen das Völkerrecht. Es ist aber nicht nur eine Bedrohung für den | |
Mittleren Osten, sondern extrem riskant für die Türkei selbst. | |
Donald Trump hat zwar widersprüchliche Statements abgegeben, aber es | |
scheint doch, dass die USA an sich der Offensive zugestimmt haben. | |
Eigentlich wollten die USA eine Pufferzone von 114 Kilometer Breite und | |
einer Tiefe zwischen fünf und 14 Kilometern einrichten. Wir wissen nicht, | |
über was genau Trump und Erdoğan gesprochen haben. Es hatte ja schon im | |
Dezember 2018 ein Telefonat zwischen den beiden Männern gegeben. Trump | |
agiert im Gegensatz zum Kongress recht flexibel. Deshalb rechnet Erdoğan | |
mit ihm als Partner. Denn der amerikanische Präsident schaut ähnlich wie | |
Erdoğan bei sämtlichen Entscheidungen auf sein innenpolitisches Standing. | |
Was bedeutet der Rückzug der US-Truppen für die Türkei? | |
Die Türkei hatte sich keinen kompletten Rückzug, sondern ein gemeinsames | |
Vorgehen erwartet. Weil Trump das erkannt hat, sagte er: Ich bin raus, die | |
Türkei muss selber gucken, wie sie klarkommt. Das war eigentlich eine | |
abschreckende Message, und nicht das, was Erdoğan sich erhofft hat. Das | |
zeigt, dass die Türkei sich auch mit anderen Akteuren in der Region ins | |
Gehege kommen kann. | |
Sie sprechen wahrscheinlich von Russland, dem Iran und dem syrischen | |
Regime. | |
Die US-Präsenz in den Gebieten östlich des Euphrat sorgte dafür, dass | |
Damaskus und seine Verbündeten hier keinen Einfluss etablieren konnten. | |
Dass die Türkei jetzt die amerikanischen Pläne durchkreut, kommt dem | |
Regime, Russland und dem Iran natürlich gelegen. Aber sie haben auch | |
Bedenken. | |
Nämlich? | |
Auf dem Gipfel von Astana, wo Russland 2017 mit türkischer Unterstützung | |
das syrische Regime und Rebellengruppen zusammengebracht hat, wurden die | |
Demokratischen Kräfte Syriens als ein „spaltender“ Faktor behandelt. Das | |
war eigentlich schon so etwas wie ein grünes Licht für eine türkische | |
Offensive gegen die DKS – aber unter der Bedingung, dass die Türkei keine | |
permanente Präsenz aufbaut. Es ist also gut für Russland, Iran und | |
Damaskus, dass die Türkei jetzt keine US-Unterstützung bekommt, aber umso | |
mehr wächst die Gefahr, dass die Türkei nicht mehr geht, wenn sie einmal in | |
Syrien einmarschiert ist. So war es ja bisher auch immer. Die Türkei hat | |
alles getan, um erst die Gebiete um Azzez, Jarablus und al-Bab und danach | |
Afrin zu türkisieren. Sie bauen dort nicht nur Straßen, sondern auch | |
türkische Moscheen, türkische Schulen, türkische Polizeiwachen und sogar | |
türkische Postdienststellen. Sie benennen Straßen um. Das sieht ganz danach | |
aus, als wollten sie für immer bleiben. Selbst im irakischen Kurdistan hat | |
die Türkei schon 24 Militärbasen eingerichtet. | |
Was wird jetzt aus den IS-Gefangenen in den Lagern der DKS? Steht die | |
Zerschlagung des IS jetzt wieder in Frage? | |
Der IS hat keine Gebiete mehr gehalten, aber in den Köpfen ist er | |
ideologisch noch sehr präsent. Als eine Hybridform der islamistischen | |
Ideologie von al-Qaida ist dieses Denken seit 30 Jahren in den Gegenden um | |
Deir ez-Zor und Raqqa verankert. Nach der amerikanischen Besatzung des Irak | |
konnte die Bewegung hier zurückgedrängt werden, doch seit 2011 ist sie | |
wieder hochaktiv. Allein im Lager al-Haul leben 73.000 Familien, die dem IS | |
zuzurechnen sind. Rund 11.000 von ihnen sind Ausländer*innen. Wir sprechen | |
hier nur von Frauen und Kindern. Im Lager Roj leben nochmal 1.700 und in | |
Ayn Isa 1.500 IS-nahe Familien. Dazu kommen die 12.000 männlichen Kämpfer | |
des IS, die derzeit in Gefängnissen oder Sondereinrichtungen gehalten | |
werden. Es wird jetzt möglich, aus diesen Gefängnissen und Lagern | |
auszubrechen. Nur noch die Türkei soll zuständig sein für die | |
IS-Gefangenen. Unglaublich, dass das zugelassen wurde. Selbstverständlich | |
stellt sich die Frage, was mit den Gefangenen wird, wenn die Türkei | |
erfolgreich ist. | |
Was sagen Sie zu den europäischen Reaktionen? | |
Erdoğan plant, rund eine Million syrische Geflüchtete in der | |
Sicherheitszone anzusiedeln. Die anderen sollen in die Gegend um Raqqa und | |
Deir ez-Zor geschickt werden. Wenn die Kurd*innen in der Region vernichtet | |
werden, hat man Raum, um die Geflüchteten loszuwerden. Und das will Erdoğan | |
als ein humanitäres Projekt verkaufen, aber Europa fällt darauf nicht rein. | |
Und wie sieht es innenpolitisch aus mit diesem Kriegsprojekt der AKP? | |
Diktatoren brauchen Kriege. Innenpolitisch sieht es derzeit sehr schlecht | |
aus für die Regierung. Die AKP verliert an Kraft, es wollen sich gleich | |
zwei neue Parteien von ihr abspalten. Die MHP hat Erdoğan im Prinzip in | |
ihrer Hand. Deshalb bietet sich Krieg an, man kann von „ausländischen | |
Bedrohungen“ sprechen. | |
Die CHP wird sehr dafür kritisiert, dass sie den Einmarschbefehl | |
unterstützt. | |
Die AKP hat die CHP handlungsunfähig gemacht. Die CHP sagt nur noch, kein | |
türkischer Soldat dürfe sich eine blutige Nase holen. Das heißt volle | |
Unterstützung. Damit ist es aus mit der Annäherung zwischen HDP und CHP. | |
Der Krieg hat eine gute Umgebung geschaffen, um die Innenpolitik nach | |
Erdoğans Vorstellungen doch nochmal neu zu designen. | |
Was heißt das für die Kurd*innen in der Türkei? | |
Die Türkei ist nicht bereit, ihren kurdischen Staatsbürger*innen | |
irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Lieber will sie die Errungenschaften | |
der syrischen Kurd*innen vernichten. Damit wächst die Feindschaft zwischen | |
den Menschen und ein neuer Friedensprozess zwischen Regierung und PKK | |
scheint unmöglich. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
11 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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