# taz.de -- Schlag ins Gesicht | |
> David Wallace-Wells beschreibt die Hölle, die der Klimawandel | |
> hinterlassen wird. Bernd Ulrich versucht zu skizzieren, was der | |
> Klimawandel in unseren Köpfen auslösen sollte, und will den Weg zu einer | |
> radikal anderen, ökologischen Politik weisen | |
Bild: Brennender Regenwald am Amazonas. Andere Umweltkatastrophen laufen wenige… | |
Von Stefan Reinecke | |
Seit knapp 30 Jahren wissen wir, dass CO2 das Klima radikal verändert. Bei | |
Konferenzen wurden Verträge geschlossen, es wurden Ziele fixiert, Wind- und | |
Solaranlagen installiert, und für Moral Empfängliche fliegen seitdem mit | |
ein bisschen schlechtem Gewissen in Urlaub. Die Hälfte des Kohlendioxids in | |
der Atmosphäre, 820 Gigatonnen, wurde in die Luft gepustet, seit wir | |
wissen, wohin all das führt. Die Erdbevölkerung ist so eng untereinander | |
vernetzt wie nie zuvor, sie ist technisch so innovativ und wohl auch so | |
aufgeklärt wie nie zuvor – und rennt sehenden Auge ins Verderben. Wir haben | |
es mit einem schwindelerregenden Widerspruch zwischen Wissen und Handeln zu | |
tun, der eine fundamentale Krise der Vernunft und Rationalität aufzeigt. | |
Den Wert von 820 Gigatonnen zitiert der US-Journalist David Wallace-Wells | |
in seinem Buch „Die unbewohnbare Erde“. Es könnte auch heißen: „I want … | |
to panic“. Wallace-Wells kompiliert aus den gängigen wissenschaftlichen | |
Szenarien die jeweils schlimmste Variante und führt ein Dante’sches | |
Höllenszenario vor, in dem Südeuropa zur Wüste wird, die Alpen trocken wie | |
der Atlas werden und weltweit die Strände im Meer verschwinden. Das ist ein | |
legitimes Mittel der Aufklärung, weil die professionellen AutorInnen der | |
Klimaprognosen dazu neigen, das Gegenteil zu tun – nämlich zu untertreiben, | |
um ja nicht als Panikmacher zu gelten, die die gebotene wissenschaftliche | |
Zurückhaltung grellen Effekten opfern. | |
Man weiß in etwa, welche Katastrophenszenarien drohen, wenn die globale | |
Temperatur um 2 Grad steigt – noch beunruhigender ist, was man nicht weiß. | |
Das Klima ist abhängig von so vielen komplexen Variablen, dass es sich | |
präzisen Prognosen entzieht. Es kann unkalkulierbare Rückkopplungseffekte | |
geben. Wenn der Permafrostboden auftaut und Unmengen Methan freigesetzt | |
werden, können alle Bemühungen, den Klimawandel zu stoppen, Asche werden. | |
Ähnliches gilt für die Erwärmung der Meere, die weniger Kohlendioxid binden | |
etc. | |
Um nicht als erleuchteter Wanderprediger zu gelten, arbeitet Wallace-Wells | |
mit einem bekannten wirksamen Kniff: Er ist eigentlich gar kein Öko, der | |
die Natur mehr liebt als seine Artgenossen, sondern ein All-American Boy, | |
der gern Burger isst und mit dem Auto über den Highway brettert. Er hat | |
einfach nur die Skizze, die die Wissenschaft vorlegt hat, ausgemalt. „Die | |
unbewohnbare Erde“ ist mitunter redundant, der Ausflug in Kulturkritik und | |
politische Theorie etwas zäh. Die Versuche, das monochrome | |
Untergangsszenario durch mutmachende Appelle aufzuhellen, für einen | |
US-Autor wohl unvermeidlich, unterfordern intellektuell. Doch ansonsten | |
wirkt dieses Buch genau so, wie es wirken will: wie ein Schlag ins Gesicht. | |
Wie verändert das existenziell bedrohliche Auftauchen des Players Natur das | |
politische Geschäft? Mit dem Klima kann man nicht verhandeln, schreibt der | |
Zeit-Journalist Bernd Ulrich, und so etwas ist in der Politik nicht so | |
recht vorgesehen. Das bundesdeutsche Mitte-Modell, das Merkel | |
perfektionierte, kann pragmatisch auf Krisen reagieren, ist aber dafür | |
unbrauchbar, eine Katastrophe, die noch kommt, in ihre politische Mechanik | |
zu integrieren. Deshalb wird die Distanz zwischen dem, was nötig ist, und | |
dem, was Konsenspolitik kann, immer größer. | |
„Alles wird anders“ will den Weg zu einer radikal anderen ökologischen | |
Politik weisen. Es stimmt ja: Wir bräuchten jetzt sofort „weniger Öl, | |
weniger Kohle, weniger Dünger, weniger Fleisch, weniger Fliegen“ (Ulrich) | |
und bald den kompletten Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft – und haben | |
das Klimapaket. Je später der Ausstieg kommt, umso schwieriger wird er. | |
Denn die Vorbehalte, die heute radikale Maßnahmen verhindern (nutzt der | |
AfD, schadet der Exportindustrie, die üblichen Lobbygruppen rebellieren | |
etc.) werden in 10, 20 Jahren noch heftiger sein. Wenn es klimabedingt | |
mehr Migration gibt, der Staat für durch Klimawandel verursachte Schäden | |
zahlen muss und die Weltwirtschaft unter klimabedingten Krisen leidet, wird | |
alles, was heute schwierig ist, noch schwieriger. | |
„Wenn der Methankreislauf in Gang kommt, dann herrscht auch in westlichen | |
Demokratien nicht mehr Freiheit, sondern blanke Panik. Freiheit hat ein | |
Verfallsdatum“, so Ulrich. Der liberale Pragmatismus, die Allzweckwaffe | |
bundesrepublikanischer Politik, passt nicht zur Ethik des Klimawandels. | |
Nicht zufällig zählt die Kritik des Merkelismus zu den überzeugenden | |
Passagen des Textes. Ulrich hat sich vom Merkel-Fan zum Kritiker gewandelt, | |
der nun ein bisschen Öko und Atomausstieg für die mattgrüne Oberfläche | |
hält, die für ein gutes Gewissen sorgen sollte. Die eigene Erleuchtung | |
inklusive Veganismus als wegweisend zu inszenieren ist ein rhetorischer | |
Beglaubigungskniff, allerdings kein so effektvoller wie der von | |
Wallace-Wells. „Meine eigene späte Etablierung als Journalist verlief | |
parallel zur ersten zaghaften Ökologisierung der Republik.“ Solche | |
Kurzschlüsse zwischen Biografie und Geschichte plus viel Ich sind | |
vielleicht typisch für Journalismus, dem in digitalen Zeiten seine | |
Bedeutung unsicher geworden ist. | |
„Alles wird anders“ ist eine Art langer Leitartikel, flott geschrieben, | |
manchmal angemessen sarkastisch, aber ohne Tiefenbohrungen. Wenn die | |
liberalen Demokratien im Westen trotz aufrüttelnder Greta-Ansprachen | |
strukturell versagen, brauchen wir dann eine Expertendemokratie? Wie sähe | |
die demokratisch akzeptabel aus? | |
Allzu nonchalant klingt das Resümee. Ob wir eine kulturelle Revolution in | |
Richtung Verzicht brauchen oder ob es reicht, Markt und Kapitalismus zu | |
dekarbonisieren, das weiß Ulrich irgendwie auch nicht. Dieses Achselzucken | |
ist allzu lässig. Das politisch zentrale, theoretisch knifflige Problem | |
beginnt erst danach. Gibt es Marktwirtschaft und Kapitalismus ohne | |
Wachstumszwang? Und wie kommen wir dorthin, ohne dass die Gesellschaft | |
kollabiert? | |
15 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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