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# taz.de -- Menschenrechtlerin in der Türkei: „Ich bin viel freier als ihr“
> Eren Keskin verteidigt seit 30 Jahren Menschenrechte in der Türkei. Ein
> Gespräch über die Angst der Regierung, die Justizreform und ihre Katzen.
Bild: Ins Ausland zu gehen, schließt die Anwältin und Menschenrechtlerin Eren…
Kaum jemand wurde so oft für ihre Arbeit angeklagt wie die Anwältin und
Menschenrechtlerin Eren Keskin. Derzeit laufen mehr als 100 Strafverfahren
gegen die 60-jährige Kurdin, weil sie die juristische Verantwortung für die
Veröffentlichungen der mittlerweile verbotenen Zeitung „Özgür Gündem“
übernommen hat. Im Hauptverfahren muss sie sich gemeinsam mit der
Schriftstellerin Aslı Erdoğan und der Übersetzerin Necmiye Alpay für
Artikel verantworten, die während der Friedensgespräche zwischen der PKK
und dem Staat erschienen.
taz gazete: Frau Keskin, wie viele Gerichtsverfahren laufen eigentlich
gerade gegen Sie? Sind Sie schon rechtskräftig verurteilt worden?
Eren Keskin: Von 2013 bis 2016 habe ich die juristische Verantwortung für
die Chefredaktion der Zeitung Özgür Gündem mit übernommen. Solange die
Friedensgespräche liefen, wurde kein einziges Verfahren eröffnet, aber
sobald sie scheiterten, kamen insgesamt 143 Klagen ins Haus – wegen
Terrorpropaganda, Beleidigung des Staatspräsidenten und Herabwürdigung des
Türkentums. Derzeit laufen 122 Verfahren gegen mich, teils noch in erster
Instanz, teils in zweiter, teils schon vor dem Kassationsgerichtshof. Ich
bin zu 17 Jahren Haft verurteilt worden, aber das Verfahren ist noch in
Revision. Außerdem wurde ich zu einer Geldstrafe von 350.000 Lira
verurteilt.
Welche Auswirkungen hat das auf Ihr Leben?
Es wäre falsch zu behaupten, dass das keine Auswirkungen hat. Es macht mich
nervös, aber ich habe mich daran gewöhnt, mit dieser Nervosität zu leben.
Seit den neunziger Jahren stehe ich andauernd vor Gericht. Ich war im
Gefängnis, hatte ein Berufsverbot, habe Polizeigewalt erlebt. Zweimal wurde
auf mich geschossen. Irgendwann wird das zur Lebensweise. Aber ich sage den
Richter*innen oft: Ich bin freier als ihr, denn ich kann immerhin sagen,
was ich denke. Auf der anderen Seite gibt es Miete zu zahlen, Katzen zu
versorgen und eine 87-jährige Mutter, die ich pflege. Was wird daraus, wenn
ich ins Gefängnis muss?
Wann waren Sie das letzte Mal im Ausland?
Vor vier Jahren.
Haben Sie denn ein Ausreiseverbot?
Es gab ein gerichtliches Ausreiseverbot. Das wurde aufgehoben. Übrigens
wurde mir das erst nach einem Jahr mitgeteilt. Daraufhin hat mir das
Innenministerium meinen Reisepass weggenommen.
Was kann man dagegen tun?
Ich fordere überhaupt nicht, ausreisen zu können. Stellen Sie sich vor, der
Kassationsgerichtshof bestätigt ein Urteil gegen mich, während ich im
Ausland bin. Dann würde ich direkt am Flughafen in Haft genommen. Ich will
lieber alles vorbereiten, für meine Mutter und meine Wohnung eine Lösung
finden, meine Katzen abgeben und dann ins Gefängnis gehen. Aber wenn ich
freigesprochen werde, dann werde ich definitiv dafür kämpfen, auszureisen.
Und Sie haben nie den Plan gemacht, im Ausland zu leben?
Ich habe mich dagegen entschieden, als ich 1995 verurteilt wurde. Kämpfen
kann man überall. Ich sehe, dass meine Freund*innen, die im Ausland leben,
dort nicht glücklich werden. Deshalb ist es mir nie in den Sinn gekommen zu
gehen.
Die Regierung hat eine Justizreform vorgelegt. Machen Sie sich Hoffnungen,
was die Unabhängigkeit der Justiz angeht?
Erst vor wenigen Wochen haben wir gesehen: Ein Gericht verfügte die
Freilassung von Selahattin Demirtaş, ein anderes Gericht ließ ihn in
derselben Sache wieder in Untersuchungshaft nehmen. Und am nächsten Tag
sagte der Staatspräsident: „Wenn wir die laufen lassen, werden das Volk und
die gefallenen Soldaten uns nicht verzeihen.“ Allein dieser Satz erzählt so
viel darüber, wem die türkische Justiz unterstellt ist. Und diese Leute
wollen jetzt eine Justizreform vorlegen. Solange es keine Unabhängigkeit
der Justiz gibt, kann es auch keine Justizreform geben.
Viele Menschen haben erwartet, dass Demirtaş freikommt. Was bedeutet dieses
Urteil für ihn und die Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ?
Ich glaube, die Republik Türkei hat mehr Angst vor der zivilen kurdischen
Politik als vor dem bewaffneten Kampf. Denn sie haben mehr als genug
Möglichkeiten, dagegen kriegerisch vorzugehen. Aber sie haben gemerkt, dass
sich einiges in der Türkei verändern kann, wenn die zivile Politik stärker
wird und mehr Menschen einbindet. Der Staat war in Furcht, als die HDP
einmal über 13 Prozent bei den Parlamentswahlen bekam. Diese Furcht ist
einer der wichtigsten Gründe dafür, dass Demirtaş nicht freikommt. Zweitens
stört es die Türkei unheimlich, dass die unbeachteten, rechtlosen
Kurd*innen in Syrien auf einmal einen Kampf führen, der von den Weltmächten
als legitim betrachtet wird. Wenn die Menschen Demokratie und Teilhabe
einfordern, fühlen sich die Machthaber plötzlich umzingelt. Selahattin
Demirtaş, Figen Yüksekdağ und all die anderen Politiker*innen werden als
Geiseln gehalten. Die Verfahren gegen sie beweisen, dass es keine
unabhängige Justiz in der Türkei gibt. Hier wird ganz offen Feindrecht
angewandt.
Die anstehende Justizreform wäre auch nicht die erste in der Geschichte der
Türkei. Was ist der Unterschied zu früher?
Ich arbeite seit den neunziger Jahren im menschenrechtlichen Bereich.
Bisher habe ich nicht gesehen, dass sich irgendetwas zum Besseren gewendet
hätte. Wir machen immer einen Schritt vor und zwei zurück. Als Anwält*innen
haben wir mittlerweile nicht einmal mehr die Möglichkeit, Gespräche mit
Richter*innen und Staatsanwält*innen zu führen. Das war sogar in den
finsteren neunziger Jahren möglich. Ich glaube nicht daran, dass diese
Regierung die Justiz reformieren könnte. Das sind nur kosmetische
Änderungen.
Und wie kann die Unabhängigkeit der Justiz wieder hergestellt werden?
Durch eine Bewegung für eine umfassende Demokratisierung. Davon sind wir
aber noch weit entfernt.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
4 Oct 2019
## AUTOREN
Yasin Kobulan
## TAGS
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