# taz.de -- Ein Herz unter Flitter und Glitzer | |
> Selbstliebe als ganz persönliche Leidenschaft – Cher in der Mercedes Benz | |
> Arena | |
Von Jenni Zylka | |
Diese Frau wird zusammengehalten von Willenskraft und Operationsnähten. | |
Zweitere wurden nur kolportiert angesichts der legendären Glätte und | |
Regungslosigkeit im Gesicht der 73-jährigen Cherilyn Sarkisian, kurz Cher, | |
die am Donnerstagabend in Berlin ihre Europatournee startete. Aber Ersteres | |
kann man spüren. In jedem hüftsteifen, dennoch lässigen Schritt, den sie in | |
ihren Overknees und Schlaganzügen tut, in jedem Ton ihrer noch immer | |
vollen, dunklen, charakteristischen Stimme. | |
Die man auch als Sprechstimme erlebt: Cher beginnt ihr Konzert in der | |
ausverkauften Mercedes Benz Arena mit einem ausufernden Schwank aus ihrem | |
Leben. „Ich erzähle euch etwas“, sagt sie, „denn gleich startet die Show | |
und ich werde wie ein Blitz über die Bühne fegen“ (was sich als etwas | |
euphemistisch herausstellt). Dann redet sie davon, wie sie an ihrem 40. | |
Geburtstag in ihrem New Yorker Lieblingsclub abhing, 1986 muss das gewesen | |
sein. Wie sie vergeblich einen Mann aufreißen wollte; wie sie gerade | |
„Moonstruck“ fertig gedreht hatte, „und ich sah besser aus als der | |
22-jährige Nicki Cage!“ Wie sie am Morgen per Telefon von einem | |
australischen Regisseur eine Absage bekam, „denn ich sei zu alt und zu | |
hässlich“. Sie habe geheult, erzählt Cher, viele, viele Tränen. Dabei, | |
jetzt kommt die Pointe, habe sie sich im Spiegel angeschaut, und gedacht: | |
„Diese Tränen sehen fantastisch aus! Wenn ich so von der Seite gucke – | |
beautiful!“ | |
Die Lehre, die man aus dem Mund der Oscar-, Emmy- und Grammy-prämierten | |
Schauspielerin und Sängerin annehmen sollte, lautet also: Selbstliebe. Wie | |
sehr sich Chers Selbstliebe in Selbstoptimierung niederschlägt, mag | |
irritieren – doch tatsächlich wirkte sie stets so, als seien es vor allem | |
ihre eigenen ästhetischen Ansprüche, denen sie genügen will. Als versuche | |
sie jeden Tag, ihre persönliche Camp-Leidenschaft auszuleben. | |
Am Donnerstag führt sie das glitzernde, größtenteils in die Jahre gekommene | |
Publikum durch ihre gesamte Karriere: Sie singt im Videoduett mit dem | |
quäkenden Sonny „I Got You, Babe“ von 1965 (in einer umwerfenden Schlaghose | |
mit Hüftgürtel), sie singt „If I could Turn Back Time“, sie singt „Woma… | |
World“ von 2013, „Walking in Memphis“, „Strong Enough“ und drei Liede… | |
ihrer überflüssigen Abba-Cover-Platte „Dancing Queen“ von 2018, die der | |
Anlass für die Tournee war. Aber immerhin tragen sie und ihre Tänzer*innen | |
dazu Samtanzüge mit Pailletteneinsätzen und Agnetha- bzw. | |
Jackson-5-Perücken. | |
Die Bühne verwandelt sich darob in eine „Arabische Nächte“-Kulisse, in ein | |
80er-goes-50er-Plattencover, eine 90er-Rave-Party und noch einige | |
Geschmacklosigkeiten mehr. Doch mit Cher will man sich nicht streiten, | |
schon gar nicht über Geschmack. Als Letztes singt sie „Believe“. Man | |
erkennt angesichts der Begeisterung aus dem Publikum eine Regung in ihrem | |
Gesicht: Sie scheint gerührt zu sein. Cher hat Herz. Irgendwo unter Flitter | |
und Glitzer schlägt es beeindruckend stark. Vermutlich ist es noch ganz | |
jung. | |
28 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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