# taz.de -- Ein und aus, ein und aus | |
> Jessica Braun hat übers Atmen geforscht und rumprobiert, früher war sie | |
> kurzatmige Kettenraucherin, jetzt läuft sie leicht und locker. Ein | |
> Interview über die Kunst des Luftholens | |
Bild: Wie der Hirsch frische Luft atmet | |
Interview Stella Schalamon | |
Jessica Braun ist Journalistin und Buchautorin. Für ihr Buch „Atmen. Wie | |
die einfachste Sache der Welt unser Leben verändert“ ließ sie ihren Atem | |
analysieren, bestieg einen 3.500er und tauchte mit Apnoetaucher*innen – | |
Menschen, die ohne technische Hilfsmittel bis zu zehn Minuten lang tauchen | |
können. | |
taz am wochenende: Frau Braun, warum haben Sie ein Buch über das Atmen | |
geschrieben ? | |
Jessica Braun: Ich hatte das Gefühl, dass mein Atem und ich uns | |
auseinandergelebt haben. Wenn ich in Redaktionskonferenzen meine Themen | |
vortragen sollte, wurde meine Stimme plötzlich höher, klang gepresster. | |
Dazu kam, dass ich den Atem anhielt, wenn ich eine SMS oder E-Mail bekam. | |
Das ist eigentlich eine natürliche Schreck- oder Erwartungsreaktion, aber | |
im täglichen E-Mail-Verkehr empfand ich sie als wenig hilfreich. Sie nahm | |
überhand. So begann die Recherche. | |
Und was haben Sie herausgefunden über das Atmen? | |
Atem ist Leben. Es ist das große Ganze, das uns alle verbindet, mit den | |
Pflanzen hier und uns beide miteinander. Wir teilen gerade die gleiche | |
Atemluft. | |
Woraus besteht die? | |
Derzeit sind knapp 3.500 Stoffe bekannt, die in der Ausatemluft vorkommen | |
können. Manche haben wir zuvor eingeatmet, andere durch | |
Stoffwechselprozesse selbst produziert. Die Luft, die wir einatmen, besteht | |
zum größten Teil, zu etwa 78 Prozent, aus Stickstoff, außerdem Argon, | |
Kohlendioxid, Spuren von anderen Gasen und Staub. Der wichtige Sauerstoff | |
macht nur 21 Prozent der Atemluft aus. Wir wollen also eigentlich nur die | |
Rosinen im Müsli, den Sauerstoff, aber essen gleich die ganze Packung. | |
Wieso brauchen wir den Sauerstoff? | |
Es ist lebenserhaltend. Die Zellen brauchen ihn, um Energie zu gewinnen. | |
Durch die Atemwege gelangt er von der Lunge ins Blut, das ihn auf die | |
Zellen verteilt. Sie nehmen ihn auf und geben Kohlendioxid ab, der durch | |
das Blut zurück zur Lunge transportiert und schließlich ausgeatmet wird. | |
Unser Körper kann nur bedingt Sauerstoff speichern, deshalb muss er den | |
ganzen Tag Luft hin und her bewegen. | |
Wie viel Liter Luft atmen wir pro Atemzug ein? | |
In Ruhe nicht viel. Dann ist es nur etwa ein halber Liter. Die Menge lässt | |
sich unter Belastung auf über zwei Liter steigern. Im Durchschnitt atmen | |
wir über 10.000 Liter pro Tag, ein und aus. | |
Wie viele Atemzüge braucht es dafür? | |
Etwa 12 Atemzüge pro Minute, über 20.000 am Tag. | |
Welche Rolle spielt die Nase? | |
Sie ist ein hervorragender Filter. Bis zu 50 Prozent der Mikroorganismen | |
und Partikelchen, die wir einatmen, filtert die Nase heraus, bevor sie sich | |
in Richtung Lunge aufmachen können. In etwa einem halben Liter Sekret pro | |
Tag werden sie abgesondert. Gleichzeitig bringt die Nase die Luft auf die | |
passende Temperatur, sie soll schön feucht und warm sein, wenn sie in die | |
Lunge kommt. Selbst bei minus 10 Grad schafft es die Nase, in unter einer | |
Sekunde die Luft anzuwärmen. Wenn uns dabei die Nase verstärkt läuft, ist | |
das meist einfach Kondenswasser. Die ausgeatmete Luft befeuchtet wiederum | |
die Schleimhäute, ein Recyclingprozess quasi, damit die Energie nicht | |
verloren geht. | |
Welche Rolle spielt die Lunge? | |
Die Lunge ist ein stilles Hochleistungstier. Sie ist schmerzunempfindlich, | |
wir nehmen sie nicht wahr. Was gut ist, weil dadurch das Zwerchfell, ein | |
sehr kräftiger Muskel, die ganze Zeit an ihr ziehen kann, ohne, dass wir | |
das merken. In der Lunge kommen Innen- und Außenwelt zusammen: die Reste | |
aus unseren Stoffwechselprozessen, die ausgeatmet werden und der frische, | |
gerade eingeatmete Sauerstoff. | |
Wie lange dauert ein Atemzug? | |
Zwei Sekunden ein, drei Sekunden aus, je nach Belastung. Die Atmung passt | |
sich ständig an: an die Luftfeuchtigkeit, an die Temperatur, an unsere | |
Emotion, an unser Bewegungslevel. Wenn wir sitzen, nutzen wir nur etwa 5 | |
Prozent unserer eigentlichen Lungenressourcen, die Lunge hat in dem Moment | |
kaum was zu tun. | |
Woher kommt der Sauerstoff, den wir einatmen? | |
Von den Pflanzen und Bäumen. Sie nehmen das Kohlendioxid, das wir ausatmen, | |
auf und produzieren daraus Sauerstoff. Eine große Buche stellt 11.000 Liter | |
Sauerstoff am Tag her und filtert gleichzeitig Schadstoffe wie Feinstaub | |
vom Autoverkehr aus der Luft. Mit die wichtigsten Sauerstoffproduzenten | |
sind aber winzige Planktonpflanzen, Einzeller namens Prochlorococcus, im | |
Meer. Sie produzieren Unmengen von Sauerstoff. | |
Wieso ist Feinstaub so schlimm? | |
Je kleiner die Partikel sind, desto weiter können sie in den Körper | |
vordringen. Nicht nur bis in die Lunge, wo sie Entzündungen in den | |
Lungenbläschen hervorrufen können. Manche schaffen es durch die | |
Lungenbläschen hindurch auch in den Blutkreislauf und können sich dann in | |
den Organen absetzen, wo sie wahrscheinlich Krankheiten begünstigen. | |
Was passiert, wenn ich lange die Luft anhalte? | |
Bis zu vier Minuten ist das bei Gesunden unproblematisch, so lange sollte | |
der Sauerstoff in unserem Körper ausreichen. Irgendwann verspürt man dann | |
aber einen Drang zum Atmen, weil der Körper das Kohlendioxid loswerden | |
will, damit das Blut nicht sauer wird. | |
Sie haben das beim Apnoetauchen kennengelernt. | |
Das Nichtatmen war am Anfang unangenehm, mein Atembedürfnis war ganz | |
schnell sehr groß. Beim Apnoetauchen geht es darum, den Atem anzuhalten. | |
Entweder nur mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegend – da liegt der | |
Weltrekord bei Männern bei über 11, bei Frauen über 9 Minuten – oder in die | |
Tiefe oder Strecken tauchend. Ich konnte nach kurzer Zeit schon doppelt so | |
lange den Atem anhalten, weil ich verstanden hatte, dass ich loslassen | |
muss, um den Atem anzuhalten. Wie Meditieren oder Yoga machen – wo man sich | |
auch mit der Atmung beschäftigt –, lehrt Apnoetauchen so auch einen | |
besseren Umgang mit Stress. | |
Atmen wir Menschen anders als andere Säugetiere? | |
Ja und nein. Bei vierbeinigen Säugetieren ist die Atmung an die Bewegung | |
gekoppelt ist. Man vermutet, dass Menschenaffen deswegen nicht sprechen | |
können. Sie können nur atmen, wie sie sich mit ihren Vorderläufen bewegen. | |
Wir Menschen haben den Atem offenbar befreit, als wir uns aufgerichtet | |
haben und können dadurch frei darüber entscheiden, das Ausatmen in viele | |
kleine Atmer unterteilen und so Silben formen. Manche Affen können sich | |
zwar mehrere hundert Wörter merken, aber haben Schwierigkeiten sie | |
auszusprechen, weil sie immer nur die ganze Ausatmung zur Verfügung haben. | |
Wieso muss ich manchmal so sehr lachen, dass ich um Atem ringe? | |
Lachen ist eines der vielen Atemmuster, die wir haben. Bei Affen geht man | |
davon aus, dass es ein Zeichen dafür ist, dass man gerade zwar sehr wild | |
ist, es aber nicht böse meint. Es hat außerdem etwas Lösendes, genau wie | |
Seufzen. Wir lassen die Schultern fallen, lockern uns, was unserem Atem | |
zugute kommt. Baucheinziehen ist für ihn kontraproduktiv. | |
Lohnt es sich mit dem Rauchen aufzuhören, oder ist die Lunge sowieso schon | |
zu sehr geschädigt? | |
Jaa! Es lohnt sich. Das kaputt gerauchte Gewebe der Lunge wird sich zwar | |
nicht mehr regenerieren. Das Gute ist aber, dass man viel Lungenkapazität | |
hat und noch sehr gut weiteratmen kann. Außerdem gehen Entzündungsprozesse | |
in der Lunge zurück, und der Spiegel des Kohlenmonoxids im Blut sinkt. | |
Kohlenmonoxid wird bei der Verbrennung von Tabak gebildet und dockt sich an | |
den roten Blutkörperchen an, wo eigentlich der Sauerstoff andocken sollte. | |
Normalisiert sich der Kohlenmonoxidgehalt des Bluts, kann man wieder mehr | |
Sauerstoff aufnehmen und die Blutzirkulation verbessert sich. Ich als | |
einstige Kettenraucherin kann mittlerweile rennen, ohne dass sich das Atmen | |
quälend anfühlt. | |
Wieso bereitet es manchen Menschen Lust, keine Luft zu bekommen? | |
Sauerstoffmangel kann zu euphorischen Gefühlen führen, ein | |
Erstickungszustand kann sich wohl sehr schön anfühlen. Zum anderen gibt es | |
das Bedürfnis, vollkommen die Kontrolle abzugeben. Atmen ist Leben, | |
jemandem die Atmung zu überlassen, ist mit die höchste Form des Vertrauens, | |
das man jemandem entgegenbringen kann. Für die meisten von uns ist das wohl | |
beängstigend, wenn jemand die Hand an den Hals legt. Man will sie sofort | |
wegdrücken – aber es gibt Menschen, die genau das suchen. | |
Muss ich Angst haben, dass mein Atem eines Tages nicht mehr automatisch | |
funktioniert? | |
Irgendwann machen wir alle den letzten Atemzug. Atemnot ist mit Schmerzen | |
Teil des Sterbens. Schon vorher wird das Atmen schwerer, über 70 Prozent | |
der Menschen bekommen in ihren letzten Tagen Atemschwierigkeiten. Da kommt | |
es uns vielleicht zugute, dass Sauerstoffmangel euphorische Gefühle | |
auslösen kann. Vielleicht hilft das ein bisschen, den Sterbeprozess zu | |
lindern. Es kann auch helfen, wenn jemand bei Atemnot mit einem atmet, was | |
Eltern auch instinktiv mit ihren Kindern machen, wenn sie sie beruhigen | |
wollen. Oder das Fenster aufzumachen, weil es einem das Gefühl gibt, dass | |
man mehr Luft bekommt. | |
Atmen Sie jetzt anders als vor dem Buch? | |
Ein und aus, wie alle anderen auch. Aber ich bin bewusster geworden, | |
versuche jeden Tag eine halbe Stunde Atemübungen zu machen und merke es | |
schneller, wenn sich die Atmung verändert. Ich habe meinen Atem | |
wiedergefunden, von der Kettenraucherin zur Sportlerin. | |
31 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Stella Schalamon | |
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