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# taz.de -- Alle Facetten von Wahnsinn
> Die Uraufführung von Claire Vivianne Sobottkes Stück „Velvet“ beim
> Festival Tanz im August steht nicht nur für unterdrücktes Begehren
> sondern auch für unterdrückte Ästhetiken
Bild: Still zu „Velvet“ von Claire Sobottke beim Festival Tanz im August
Von Astrid Kaminski
Farn, Moos, Scharfgabe, Goldrute, Sauerampfer, ein geschossener Kohl,
Mangold, ein Ahornsetzling sowie ein weiterer mit nur halb gesund wirkenden
Blättlein wachsen zu drei Grüppchen arrangiert auf einer im HAU 3
aufgeschütteten Erdinsel. Aus einzelnen Lichtquellen wird dieses Biotop so
angestrahlt, dass sich die Pflanzenfarben wie auf den Bildern alter Meister
in fast überirdischer Konturenschärfe vom schwarzen Hintergrund abheben,
Detail und Ensemble in perfekter Harmonie. Instagramtauglichkeit scheint
dabei keine Frage sondern ein en passant zu entrichtendes Tribut. Das
Einsetzen zweier automatischer Trommeln entrückt das Set dagegen aus der
reinen Bildlichkeit in atmosphärische Lagen zwischen Séance und magischem
Realismus.
Schon allein diese Komponenten bilden in „Velvet“, der Premiere der
Berliner Performerin Claire Vivianne Sobottke bei Tanz im August, ein
Referenzsystem der Widersprüchlichkeiten, der Verstrickungen, der
Befreiungsschläge, der Neuverortungen. Tanzgeschichtlich erinnert die Erde
an Pina Bauschs „Sacre“, der wiederum eine Referenz an Strawinsky und
Nijinsky und damit an den Aufbruch der Moderne im Tanz schlechthin
darstellt. An das Ablegen des Korsetts der festen Form, des Balletts,
gesellschaftlicher Dresscodes. Die Insel steht kulturgeschichtlich für
einen Ort des Ausstiegs, des Rückzugs, der Wildnis, des Undomestizierten,
Ursprünglichen. Der Garten dagegen für das Gegenteil: Eingriff,
kontrollierte Ordnung, Abhängigkeit, untertänig gemachte Natur, eine
Vorstellung vom Paradies als wohlgefällige, hörige Ordnung.
In dieses hoch aufgeladene Bühnenbiotop bricht Claire Vivianne Sobottke,
noch bekleidet, mit einer Bauchlandung ein. Schicht für Schicht wird
Komponist Tian Rotteveel von nun an ein elektronisches Symphonie-Orchester
perkussive Klangfarben erzeugen lassen. Wie Elektroschocks schießen
Zustände durch die Performerin, die nach Facetten des Wahnsinns wirken:
hohe Körperspannung, Kopfwürfe, aufgerissener, komisch verzerrter Mund,
unter die Lider rollende Pupillen, wirr gestreckte Hände, gereckte Fäuste,
ein wie im Tick aus sich herausgeschütteltes Victory-Zeichen oder die Arme
in Läuferhaltung, ein Ampelmännchen auf der Flucht. Dann fallen die
Kleider, der Körper verschmilzt bei 33 Grad mit der Erde.
Claire Vivianne Sobottke hat in den letzten Jahren in verschiedenen
Konstellationen immer wieder Feminität, weibliche Erotik, Obsessionen und
unterdrückte Körperbilder thematisiert. Legendär wurde ihr „Punkgirl“-Duo
mit Maria Scaroni in Meg Stuarts Choreografie „Until Our Hearts Stop“,
gipfelnd in einer umgekehrten Kommune-1-Pose: Scaroni und Sobottke machen
einen Handstand an die Wand, öffnen die Beine V-förmig und kitzeln sich
daraufhin mit den Zehen gegenseitig am Geschlecht. Diese Bilder sind jedoch
nicht wie in den 68ern Statements. Sie wollen jedoch weniger gelesen werden
als erlebt. Sie haben viel weniger mit Freuds Psychoanalyse als mit
Deleuze/Guattaris Schizoanalyse zu tun. Es geht um die Verkörperung
unterdrückter Fantasien, um einen Ausbruch aus dem Körper als
domestizierter Garten normierter und codifizierter Sexualität – um eine
experimentelle Kartografie für die Frage, wie die ehemaligen Kontrahenten
Leben und Kunst, Vernunft und Obsession anders ineinandergreifen können.
Der Begriff des Gartens wurde im zeitgenössischen
Tanz/Performance-Geschehen wie in allen Künsten zuletzt zum ästhetischen
Angelpunkt, bislang jedoch nie in eine vergleichende Anordnung gebracht,
wie es derzeit der Gropius Bau probiert. Sich dieser Aufgabe anzunehmen,
davon ist das Festival Tanz im August allerdings weit entfernt. Eher stellt
es „Velvet“ in eine Reihe von durchchoreografierten Hochglanzproduktionen,
die das Stück fast zum Symptom werden lassen.
Symptom der Ästhetiken einer Berliner Tanzszene, die alle Normierungen und
alle Körperöffnungen, die sie finden kann, hinterfragt, die Begehren auf
Sexpartys und in Bondage-Workshops auslotet, die sich über Esoterikkritik
mit dem Argument Esoterik sei alles, was weiße Männer in weißen Anzügen
noch nicht erforscht hätten, lustig macht und mit wilder Sehnsucht nach
Ritualen des Überlebens in einer – ach, noch so ein Krachwort –
postkapitalistischen Gesellschaft sucht. In „Velvet“ scheint all das in ein
ästhetisch fast zu perfektes Bild gegossen. In ein Bild, das mit toter
Doppelgängerin und trolligen Bärchen-Sexspielen vollendet wird. In ein Bild
einer Frau mit Fuchsschwanz im Anus, die Flanken auf einen Findling
gestützt. Eines, das nur eine Erotomanin wie Claire Vivianne Sobottke
entwerfen kann. Aber vielleicht nur vor dem Hintergrund einer Szene, die
vom Festival Tanz im August in den letzten Jahren wie eine
antipsychiatrische Extremistenenklave gemieden wurde.
30 Aug 2019
## AUTOREN
Astrid Kaminski
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