Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Das Leben filmen, wie es ist
> Kostenlos und online zugänglich: Unbekannte Dokumentarfilme über
> ländliches Leben im Rheinland stellen teils ausgestorbene Berufe wie
> „Augenpliester“ und „Scherennagler“ vor
Bild: Aus Landeskunde wird ein historisches Dokument: Tonpfeifenbäckerinnen be…
Von Michael Freerix
Die Firma Manufactum verkauft „sie noch, die guten Dinge“: Produktionen aus
kleinteiliger handwerklicher Herstellung. Aber wo werden diese produziert
und unter welchen Bedingungen? Kaum noch in Deutschland. Wie dies früher
ausgesehen hat, ist in den mehr als 200 außergewöhnlichen Dokumentarfilmen
des „Landschaftsverbandes Rheinland“ zu sehen, die seit den sechziger
Jahren produziert wurden. Sie sind seit dem vergangenen Jahr [1][kostenfrei
im Internet anzuschauen] (unter https://alltagskulturen.lvr.de/) und geben
den Blick frei auf eine Welt, die so nicht mehr existiert.
Hunsrück und Eifel gehörten seit je zu den armen Regionen in Deutschland.
Der Boden gab nicht viel her, industrielle Arbeit, die Geld brachte,
existierte kaum. Auf diesen Grundlagen hatte sich dort eine
außergewöhnliche Mischwirtschaft herausgebildet: im Sommer die
Landwirtschaft, im Winter die handwerkliche Heimarbeit mit Produkten für
den ländlichen Raum.
Doch nach dem Krieg änderte sich dies drastisch. So jedenfalls sah es der
Volkskundler Dr. Gabriel Simons, der sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs
intensiv mit dem Leben in dieser Region beschäftigte. Simons war in der
Eifel zu Hause und kannte „dort praktisch jeden Bauern und Handwerker“, wie
sich sein Kameramann Rainer Nagels erinnert. Nagels hatte an einer
Fachhochschule für wissenschaftliche Fotografie studiert und arbeitete als
Fotograf für die Landesbildstelle Rheinland. Hier traf er Simons, der Filme
über das handwerkliche und bäuerliche Leben im Rheinland machen wollte. Die
Landesbildstelle würde sie finanzieren.
Simons fragte den Fotografen, ob er auch mit der Filmkamera arbeiten würde.
Nagels war begeistert. Bereits als Kind hatte er im Kinoprojektionsraum
ausgeholfen und sich mit Filmtechnik beschäftigt. 1966 entstand ihr erster
gemeinsamer Film über die Erntearbeiten mit einem Kuhgespann. Simons war es
ungeheuer wichtig, keine der damals gängigen „Kulturfilme“ zu machen, in
denen Schauspieler vor der Kamera agierten und Lebenswirklichkeit
„nachstellten“. Er wollte das Leben filmen, wie es ist. „Vor allem auf den
Originalton und den begleitenden Kommentar legte Simons ungeheuren Wert“,
erinnert sich Nagels.
In schneller Folge drehten die beiden nun Filme über bäuerliche
Lebenswelten wie auch über Volksbräuche und ländliche Handwerksbetriebe.
Wunderbar klar und kompakt ist in ihren Arbeiten zu sehen, wie Köhler im
Wald Holzkohle herstellen, Sandsteine im Steinbruch gewonnen werden, wie
Steingut im mit Holz befeuerten Brennofen lasiert wird oder Feldbrandziegel
auf freiem Feld gebrannt werden.
Teilweise enthüllen diese Dokumentarfilme erstaunliche arbeitskulturelle
Verflechtungen. Der „Grafschafter Zuckerrübensirup“ zum Beispiel, der
früher auf keinem Frühstückstisch fehlen durfte, wurde in einer ländlichen
Fabrik hergestellt, in der ein riesiger Ringofen stand. Darin wurden von
Januar bis in den Herbst Ziegel gebrannt. Daneben stand eine Werkhalle, in
der vom Herbst bis zum Januar Zuckerrüben zu „Krautsaft“, wie er im
Rheinischen heißt, verarbeitet wurden. Beides, Tonziegelherstellung und
Zuckerrübenanbau, ist von Lehmboden abhängig. Ziegel werden aus Lehm
gebrannt, und Zuckerrüben gedeihen hervorragend auf lehmhaltigem Boden.
Tatsächlich produzierte diese Fabrik von 1893 bis 1995 Ziegel im Rundofen,
bis sie abgerissen wurde. Erst nach 1900 kam die Produktion von
Zuckerrübensirup hinzu, die noch heute besteht. Andererseits gab es auch
Berufe, die sich als Zuarbeit zur industriellen Produktion erhielten.
„Augenpliester“ und „Scherennagler“ zum Beispiel arbeiteten industriell
gefertigte Scherenteile nach, die sie aus der Fabrik holten und
anschließend wieder dort ablieferten. Das Gewerbe der Besenbinder, die aus
Birkenreisig Besen fertigten, hingegen konnten Simons und Nagels nur noch
filmen, weil diese Besen ausschließlich in der Stahlverhüttung gebraucht
wurden, denn Birkenholz hielt der Hitze am Hochofen am besten Stand.
In den Filmenlernt man viele Berufe kennen, die so fremd sind wie die
Dialekte, die in ihnen gesprochen werden. Was ein Hamenmacher ist, ein
Dielensäger, ein Heft- und Schalenschneider oder ein Bandwirker, das ist
heute im Grunde vergessenes Wissen der Vergangenheit. „Viele der Menschen,
die ich damals bei der Arbeit filmte, waren schon sehr alt. Sie fanden
keine Nachfolger“, erinnert sich Kameramann Rainer Nagels. „Der Schuster
Josef Esser zum Beispiel, den ich 1990 in Heimersheim an der Ahr filmte,
der war schon 85. Er hatte lange keinen Schuh mehr hergestellt, sondern
reparierte nur noch. Es dauerte tatsächlich gut 15 Arbeitsstunden, bis er
einen einzigen Schuh fertig hatte!“
Manchmal mussten Simons und Nagels tatsächlich Leute zusammensuchen, um in
einer leer stehenden kleinen Werkstatt zu filmen. Trotzdem gibt es in
diesen Filmen nichts Gestelltes oder Inszeniertes. Die Menschen seien froh
gewesen, dass man sie filmte: „Sie blieben ganz in ihrer Rolle und waren
stolz, dass ihre Handarbeit gefilmt wurde“, stellt Nagels fest.
Unverstellt zeigen diese Dokumente auch, in was für beengten, winzigen
Zimmern die Menschen damals lebten und wie wenig Platz in den Werkstätten
war. Rainer Nagels musste äußerst sensibel vorgehen, um die Handwerker in
dieser Umgebung durch die Arbeit mit der Kamera nicht zu verstören. Die
recht große 16-mm-Filmkamera mit Stativ brauchte Platz, und obendrein
musste künstliches Licht aufgebaut werden, einfach weil kaum Tageslicht in
die Räume drang. Hinzu kam der Tonmann, mit dem Nagels im Team arbeitete.
In der freien Natur gab es hingegen andere Probleme. Wenn zum Beispiel
gezeigt wird, wie Arbeiter in einem Steinbruch stundenlang damit
beschäftigt sind, Sandstein als Rohmaterial für Schleifsteine oder
Steintränken aus dem Fels zu schlagen, dann steht das 2-Personen-Filmteam,
genau wie die Arbeiter, in 12 Meter Höhe stundenlang am Abgrund. Jeder
falsche Schritt könnte tödliche Folgen haben. So wird denn auch viel
thematisiert, wie gesundheitsschädlich die oft beschaulich wirkende
Handwerksarbeit häufig war: Die Veredlung von Tontöpfen in mit Holz
befeuerten Öfen brachte Unmengen an Rauch und giftigen Substanzen in die
Umwelt. Köhler zum Beispiel hatten, bedingt durch Kälte und Staub, früh
chronische Lungenerkrankungen, Brandverletzungen waren die Regel, und
Rheuma gehörte in der Region zu den ganz „normalen“ Alterskrankheiten.
Im Fernsehen waren die Filme von Simons und Nagels nie zu sehen, man konnte
sie nur in den bundesweit vorhandenen Landesbildstellen ausleihen. „Jeder
Film hat die Länge, die es braucht, um sein Thema genau darzustellen“, war
das Credo von Gabriel Simons, und das passte nicht in die ‚Sendeschienen‘
der Sendeanstalten. Wobei Nagels früh darauf drängte, die Filme auf
VHS-Kassetten zu übertragen, um eine weitere Verbreitung zu erzielen. „Aber
das ist kein Vergleich zum Internet, wo manche dieser Filme bereits jetzt
immens hohe Anklickzahlen haben“, was ihn wirklich wundert.
Nichtsdestotrotz ist er weiter aktiv. Im Seniorenheim traf er auf einen
Ethnografen, mit dem er weiterhin Dokumentarfilme dreht. Jetzt allerdings
mit einem äußert hochwertigen Mobiltelefon!
29 Aug 2019
## LINKS
[1] https://alltagskulturen.lvr.de/
## AUTOREN
Michael Freerix
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.