Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- IS-Gefangene in Nordsyrien: Nach Leipzig oder ins Kalifat?
> Im nordsyrischen Lager al-Haul leben rund 3.000 ausländische Frauen. Die
> kurdische Regionalverwaltung schlägt eine internationale Gerichtsbarkeit
> vor.
Bild: Viele Frauen aus IS-Gebieten wurden von den DKS interniert
Seit Anfang des Sommers brennen die Felder entlang der Straße nach
Al-Hasaka im Nordosten Syriens. Die Kämpfe zwischen den Milizen der
Demokratischen Kräften Syriens (DKS) und dem sogenannten Islamischen Staat
(IS) sind vorüber, doch die DKS gehen davon aus, dass IS-Kämpfer die Felder
anzünden, um die Bevölkerung auszuhungern.
Mitten in dieser Szenerie breitet sich al-Haul aus – ein riesiges, mit
Stacheldraht umzäuntes Lager für Geflüchtete und Kriegsgefangene. Hier
leben 71.000 Menschen. Die meisten von ihnen sind Zivilist*innen, die aus
Kriegsgebieten geflüchtet sind. Das Lager steht unter dem Schutz der
Sicherheitskräfte der DKS. Auch ihre Kriegsgefangenen internieren die
größtenteils kurdischen Milizen hier.
Zwischen den Zelten spielen vor Schmutz starrende Kinder und
vollverschleierte kleine Mädchen. Hier lebt die 19-jährige deutsche
Staatsbürgerin Leonora Messing, die nach Syrien kam, um sich dem IS
anzuschließen und sich mittlerweile von der Terrormiliz gelöst hat. Mit
ihren zwei Kindern lebt Messing in einem Zimmer, das sich in einem
Container befindet.
Unter der blaugrauen Burka und dem Gesichtsschleier, den sie trotz der
Hitze von 40 Grad Celsius trägt, erkennt man nur ihre Augen. Lessing
bezeichnet das Leben im Lager als „Wahnsinn“ und möchte wieder zurück nach
Deutschland. Aber die deutsche Regierung weigert sich, sie zurückzunehmen.
Im Lager leben derzeit rund 3.000 Frauen mit anderen Staatsangehörigkeiten
als der syrischen. Viele von ihnen haben mehrere Kinder. Das Amt der
Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA)
spricht von einer mehrfachen Überbelegung. Nachdem die DKS im März Baghuz,
die letzte Region unter IS-Einfluss, befreien konnte, gilt der IS als
zerschlagen. Zurückgeblieben sind die Menschen, die sich ihm angeschlossen
hatten und nun Gefangene der DKS sind.
## „Wer will denn nicht unter der Flagge des Kalifats leben?“
Laut Bundesinnenministerium sind mehr als 1050 „deutsche Islamisten bzw.
Islamisten aus Deutschland“ ausgereist, um sich der islamistischen
Terrororganisation anzuschließen. Ein Drittel dieser Personen sei bereits
nach Deutschland zurückgekehrt, 220 sollen tot sein. Aktuell befinden sich
in Syrien 109 aus Deutschland ausgereiste Terrorist*innen in Haft – 80 von
ihnen sind deutsche Staatsbürger*innen.
Messing kam über das Internet mit dem IS in Berührung. Der Kontakt zu
anderen Personen, die sich aus Europa dem IS angeschlossen hatten, hat sie
überzeugt: „Ich war fünfzehn und kurz zuvor zum Islam übergetreten. Man hat
mir erzählt, dass ich als Muslima nach Syrien gehen und ein Leben leben
muss, das meinem Glauben entspricht. Sie meinten, dass in Deutschland alles
Sünde sei und ich in der Hölle landen würde, wenn ich dort bleibe.“
2015 verlässt Messing, die im sachsen-anhaltinischen Sangershausen
aufgewachsen ist, Deutschland und schließt sich in Syrien dem IS an. Sie
lebt dreieinhalb Jahre in Tall Abjad an der Grenze zu Türkei. Dort heiratet
sie ihren zwei Jahre älteren Freund Martin Lemke und bringt bald ihr erstes
Kind zur Welt. Neben Frauen wie Leonora gibt es in al-Haul auch glühende
Anhängerinnen der Terrormiliz. Im März setzten IS-Anhängerinnen Zelte in
Brand, in denen Menschen lebten, die aus den IS-Gebieten geflüchtet waren.
Dabei wurde ein Kind getötet.
Im Juni wurde ein Offizier des DKS erstochen und eine internierte Frau aus
der „Ordnungseinheit“ des IS erwürgte ihre dreizehnjährige Enkelin, weil
sie keinen Gesichtsschleier trug. Die türkische Staatsbürgerin Serap Kırgıl
ist eine der Frauen, die im Lager lebt und nicht von der Ideologie des IS
ablassen will. Die 29-Jährige bereut ihre Geschichte nicht: „Ich wollte in
einem wirklich islamischen Staat leben. Wer möchte denn nicht unter der
Flagge des Kalifats leben? Die Idee eines islamischen Staates wird bis zum
Jüngsten Gericht fortbestehen.“
## Toxische Köpfe und reuige Frauen
Chadija Ibrahim vom Anwaltsverband Nord- und Ostsyriens sieht eine
anhaltende Gefahr. „Bei den Gefangenen in den Lagern sehen wir, dass die
Einstellung in den Köpfen unverändert ist.“ Die Juristin gibt sich
alarmiert: „Unter ihnen findet eine derart massive Organisierung statt,
dass der zerstörerische Einfluss des Salafismus die Welt noch lange
heimsuchen wird, falls Verurteilung und Rehabilitation noch länger auf sich
warten lassen.“ Es ist nicht klar, was aus den tausenden nicht-syrischen
Staatsbürger*innen werden soll, die noch in al-Haul leben.
Serap Kırgıl möchte in der Türkei vor Gericht gestellt werden, Leonora
Messing möchte zurück nach Deutschland. Doch jedes Land führt seine eigene
innenpolitische Debatte darüber, ob die Personen zurückgeführt und
verurteilt werden oder ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll,
damit sie nicht zurückkehren. Mitte Juli beschloss das Berliner
Verwaltungsgericht, dass eine andere deutsche Frau, die sich in Syrien dem
IS angeschlossen hat, gemeinsam mit ihren drei Kindern nach Deutschland
rückgeführt werden muss. Das Auswärtige Amt legte Beschwerde ein und
beharrt darauf, dass nur die Kinder einreisen dürfen.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg tadelte die Beschwerde der
Bundesregierung in einem ungewöhnlich hart formulierten Schreiben. Darin
heißt es laut Tagesschau, die Bundesrepublik verlange auch von anderen
Staaten, seine straffällig gewordenen oder radikalisierten Bürger*innen
zurückzunehmen. Weder das Auswärtige Amt noch das Innenministerium wollten
taz gazete gegenüber zur Situation von Leonora Messing Stellung nehmen.
## Höllische Furcht vor der Richterin ohne Staat
Derweil verurteilen die Demokratischen Kräfte Syriens gefangene
IS-Mitglieder vor selbst aufgestellten Gerichten. Die Mitglieder der
Terrormiliz glaubten, dass sie nicht ins Paradies kämen, wenn sie im
Gefecht von Frauen getötet werden. Nun fürchten sie sich davor, von einer
Frau verurteilt zu werden. Eine der Richterinnen an den Gerichten in der
kurdisch geprägten Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens, ist
Viyan S. „Die Angeklagten sind geschockt, wenn sie mich sehen“, sagt die
Richterin.
Bisher seien ungefähr 7.000 Personen in Nordsyrien verurteilt worden. Die
Todesstrafe werde nicht verhängt. Die Standards der Ausbildung und
Ernennung der Richter*innen sind allerdings unklar. Ein Besuch des Gerichts
war für taz gazete aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Richterin Viyan S.
umreißt die Position der kurdischen Verwaltung, die sich international
besetzte Tribunale vor Ort wünscht. „Die Verbrechen haben hier
stattgefunden. Die Angeklagten, die Beweise und die Zeug*innen sind hier.
Der Gerichtsstand müsste im Prinzip hier sein, um gerechte Urteile zu
sprechen.“
Zwar hat die schwedische Regierung dazu aufgerufen, unter Beteiligung der
EU und der UN ein internationales Tribunal einzurichten. De facto bleibt
aber bisher den DKS die Aufgabe überlassen, die Kriegsgefangenen unter
menschenwürdigen Bedingungen zu internieren und vor ein Gericht zu stellen.
„In seinem eigenen Land würde ein IS-Mitglied vielleicht sogar straffrei
ausgehen“, sagt Richterin S. „Wir sind der Meinung, dass die betreffenden
Staaten unsere lokale Justiz unterstützen sollten.“ Richterin S. plädiert
für internationale Arbeitsteilung. „Wir brauchen Bildungs- und
Rehabilitationsprogramme unter offizieller internationaler Beteiligung.
Sonst werden die Täter*innen die Welt erneut bedrohen. Für eine nationale
Gerichtsbarkeit mit internationaler Unterstützung bräuchte es allerdings
eine Zustimmung der syrischen Zentralregierung.
Neben der kurdischen Regionalverwaltung in Nordsyrien soll auch die
irakische Regierung eine internationale Gerichtsbarkeit für IS-Verbrechen
angeboten haben. Das Auswärtige Amt bestätigte gegenüber taz gazete, dass
die Bundesregierung am internationalen Austausch zur Strafverfolgung von
mutmaßlichen IS-Kämpfer*innen teilnehme. Allerdings erkennt Deutschland die
kurdische Regionalverwaltung in Nordsyrien nicht an.
Bei der gestrigen Bundespressekonferenz wollte Sprecherin Maria Adebahr
nicht zu der Frage Stellung nehmen, ob es ein zwischen Außen- und
Innenministerium abgestimmtes Vorgehen bei Verhandlungen mit dem Irak gebe.
An eine solche Strafverfolgung müssten „sehr, sehr hohe Standards“
angesetzte werden, so Adebahr. Der Schwerpunkt des Bundesjustizministeriums
liege bei der Strafverfolgung von deutschen IS-Angehörigen durch den
Generalbundesanwalt von deutschen Gerichten, sagte Sprecher Maxiimilan
Kall. Das steht allerdings im Gegensatz zu Äußerungen von
Bundesinnenminister Seehofer, der im April sagte, eine internationale
Strafgerichtsbarkeit sei ihm „allemal lieber“ als die deutschen
IS-Angehörigen wieder einreisen zu lassen.
Aus dem Türkischen von Aşkın Hayat Doğan
15 Aug 2019
## AUTOREN
Erk Acarer
## TAGS
taz.gazete
Politik
Afghanistankrieg
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Krieg in Afganistan: 63 Tote bei Anschlag auf Hochzeit
In Afghanistan sind zahlreiche Menschen bei einem Selbstmordattentat
getötet worden. Die Taliban bestreiten, daran beteiligt zu sein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.