# taz.de -- Die zu spät gekommene Richterin | |
> Beim Filmfestival von Locarno regiert die Cinephilie. Ein Film, der in | |
> den Slums von Lissabon spielt, hat gewonnen | |
Bild: Vitalinas Gesicht ist der emotionale Bezugspunkt für das gespenstische T… | |
Von Dominik Kamalzadeh | |
Ein Mosaik aus gelben und schwarzen Stühlen, die das Fell des | |
Festival-„Tiers“, des Leoparden, nachzeichnen. Bis zu 8.000 Menschen finden | |
auf der Piazza Grande in Locarno Platz. Und wenn, wie am ersten Wochenende | |
des Festivals, Quentin Tarantinos „Once Upon a Time … in Hollywood“ auf d… | |
Programm steht, ist sie ausverkauft. Ein imposanter Anblick, bei dem man | |
ins Schwärmen kommt. Einen Moment lang könnte man das Geraune vom | |
Niedergang des kollektiven Filmerlebnisses glatt vergessen. Doch ein | |
solcher Event spiegelt freilich nicht die Gesamtsituation wider. Nicht | |
einmal die eines Filmfestivals wie Locarno. Immer mehr Filme, immer mehr | |
Distributoren, aber immer weniger kompetente Lotsen – ungefähr so ließe | |
sich die gegenwärtige Situation umreißen. | |
Der Italiener Marco Müller, der das Schweizer Festival in den 1990er Jahren | |
geleitet hat, wagte damals noch das Experiment, die Verästelungen des Kinos | |
an einem symbolischen Ort wie dem Stadtplatz zusammenzuführen. Da konnte | |
ein Film wie Paul Verhoevens „Starship Troopers“ neben einer formstrengen | |
Arbeit von Godard oder Straub/Huillet laufen. Die Französin Lili Hinstin, | |
die dieses Jahr ihren Einstand als Direktorin gab, orientiert sich am Kurs | |
ihrer beiden Vorgänger Olivier Père und dem nach Berlin berufenen Carlo | |
Chatrian, die Locarno wieder als Ort der Cinephilie etablierten. Die | |
Piazza ist für die Crowdpleaser da, im Wettbewerb dominiert ein avanciertes | |
Arthouse-Kino, während experimentelle Formate in der neu benannten Sektion | |
„Moving ahead“ aufgehoben sind. | |
Die Trennwände zwischen den Abteilungen sind jedoch nicht so abgedichtet, | |
dass der Dialog zwischen ihnen ausbliebe. Ohne ein produktives Gewirr der | |
Stimmen, den überraschenden Linien, die sich beim Besuch ergeben, hat ein | |
Festival keine Handschrift. „Krabi, 2562“ vom Briten Ben Rivers und der | |
thailändischen Regisseurin Anocha Suwichakornpong lief bei „Moving ahead“, | |
hätte aber auch gut in eine andere Sektion gepasst. Der Film ist ein | |
Dokumentarfilm der Irrungen und Verästelungen, der seine Richtung scheinbar | |
nach Lust und Laune einschlägt. | |
Den roten Faden bildet die Suche nach Mythen und deren Migration durch die | |
Zeiten: Welche Tradition hinter den Sehenswürdigkeiten der südwestlichen | |
Region Thailands ist erfunden, welche real? Was hat es mit dem | |
Fruchtbarkeitsaltar voller Penisskulpturen in der Phra-Nang-Grotte auf | |
sich? Rivers und Suwichapornkong geben ihren Bildern Raum zum Atmen. Ein | |
etwas ratlos wirkender Regisseur (vom Filmemacher Oliver Laxe verkörpert) | |
und eine Frau, die sich als Location-Scout ausgibt, verweisen darauf, dass | |
das Kino selbst ein Schöpfer populärer Mythen ist. | |
In seiner Vermischung von Formen ist „Krabi, 2562“ genauso ein „typischer… | |
Film für Locarno wie „Space Dogs“ von Elsa Kremser und Levin Peter. Das | |
deutsch-österreichische Filmemacherpaar begleitet Straßenhunde gleichsam in | |
Augenhöhe durch Moskau, belässt es dabei aber auch nicht bei einer | |
realistischen Perspektive. Denn die tierischen Überlebenskünstler werden in | |
die Tradition sowjetischer Raumfahrtpioniere gestellt. Die Anrufung der | |
heroischen Vergangenheit von Laika und Co. per Voice-Over und Archivbilder | |
hebt auch die zotteligen Streuner der Gegenwart in ein zärtliches Licht. | |
Doch auch im Wettbewerb werden Sehgewohnheiten irritiert. „Vitalina Varela“ | |
von Pedro Costa war eine der bezwingendsten Arbeiten und hat den Goldenen | |
Leoparden gewonnen. Der portugiesische Regisseur setzt seine unnachahmliche | |
Exkursion in die urbanen Slums kapverdischer Einwanderer in Lissabon fort. | |
Die Figuren, die bei ihm gemeinsam mit den Laiendarsteller erarbeitet | |
werden, sind zum Teil Echos früherer Filme, etwa aus „Horse Money“, für d… | |
Costa in Locarno als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. | |
Jedes einzelne der von Costas aus dem Schatten kunstvoll ausgeleuchteten | |
Bilder ist exquisit. Mit Vitalina, die nach dem Tod ihres Mannes bloßfüßig | |
aus dem Flugzeug tritt, kommt er auf eine frühere Erzählung aus „Horse | |
Money“ zurück. Ihr Gesicht bleibt der emotionale Bezugspunkt für das | |
gespenstische Treiben. Trotz ihrer Empörung, ihres Schmerzes, mit denen sie | |
die desolaten Räume ihres Mannes betrachtet, bleibt sie auf einen | |
würdevollen Abschied konzentriert. Costas Kino will uns auf die Seite | |
dieser zu spät gekommenen Richterin ziehen. | |
Der Galicier Eloy Enciso ist ein Geistesbruder von Costa. In „Longa noite“ | |
bilden Briefe und Texte aus der Zeit nach dem Terror der Falangisten der | |
1930er Jahre den Ausgangspunkt für eine Studie menschlicher | |
Unzulänglichkeiten in politisch ungewissen Zeiten. Wie Costa schafft Enciso | |
einen Gedankenraum über Epochen hinweg. Dialogszenen weichen mit der Zeit | |
nachtschwarzen Naturbildern, in denen die Figuren immer mehr auf ihre | |
Ängste und Urtriebe zurückgeworfen sind. | |
Doch nicht alles in Locarno ist Autorenkino der strengen Sorte, Hinstin und | |
ihre Kuratoren haben erfrischend abwechslungsreich programmiert. Auffallend | |
war die Anzahl spielerischer Zugänge. Der US-Amerikaner Joe Talbot erzählt | |
in „The Last Black Man in San Francisco“ von diffusen Untergangsstimmungen, | |
anarchischen Inbesitznahmen sowie den Grenzen liberaler Toleranz in der | |
Metropole. | |
Hauptdarsteller Jimmie Fails spielt eine Variation seiner selbst und auf | |
seine eigene Familiengeschichte. Es geht um ein viktorianisches Haus, das | |
sein Großvater einst im „Harlem des Ostens“ gekauft hatte und in das Jimmie | |
im nunmehr gentrifizierten Stadtteil illegalerweise einzieht. Der Traum vom | |
eigenen Heim wird hier mit einer magischen-skurrilen Drehung zur | |
historischen Reparatur an den Schwarzen umgedeutet. | |
Auch die Französin Nadège Trebal hält sich in ihrem Film „Douze mille“ | |
nicht unbedingt an die Regeln des Sozialdramas, wenn sie eine junge Liebe | |
durch einen ökonomischen Kraftakt auf die Probe stellt. Frank (Arieh | |
Worthalter) ist ein Schlawiner, der sich in prekären Arbeitswelten mit | |
kleineren Gaunereien durchschlägt und selbst kleine Tanzeinlagen für seinen | |
Kumpels aufführt, wenn es ein wenig Kleingeld abwirft. Wie Talbot | |
inszeniert Trebal im Grunde gegen die faktischen Begebenheiten an. Sie | |
feiert die List und die Dreistigkeit einer Figur, die sich für ein größeres | |
Ziel eigene Freiräume erfindet. Gegen den alles durchdringenden | |
Kapitalismus setzt dieses Kino die subversive Kraft von Konstellationen, | |
die zeitweise neue Handlungsweisen erlauben. | |
In „Das freiwillige Jahr“ von Ulrich Köhler und Henner Winckler geht es | |
dagegen darum, ein Bild für das heillose Durcheinander eines Mannes zu | |
schaffen, der sich für rechtschaffen hält. Die Komödie beginnt mit einem | |
hastigen Aufbruch. Jette (Maj-Britt Klenke) soll von ihrem Vater Urs | |
(Sebastian Rudolph) zum Flughafen gebracht werden, um ein Jahr in Afrika zu | |
verbringen. Doch die Sturheit des helikopterhaften Elternteils, das kein | |
Bewusstsein für seinen Paternalismus hat, und das emotionale | |
Ungleichgewicht der Tochter führen den Film auf Abwege, ja in eine | |
Chaosspirale. Köhler und Winckler überraschen mit einem Buñuel’schen | |
Alltagsdrama der Wiederholung, in dem die Figuren im hastigen Tempo nicht | |
aus ihrer Haut herauskönnen. Die beiden haben ihren Film eigentlich als | |
TV-Film produziert, nun wird er auch in Deutschland ins Kino kommen. Ein | |
gutes Beispiel dafür, wie beweglich der Markt in Wahrheit sein kann. | |
19 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Dominik Kamalzadeh | |
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