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# taz.de -- Drogenkonsum und Internet: Juristischer U-Turn mit Escobar
> Eine Istanbuler Influencerin wurde wegen Verleitung zum Drogenkonsum
> verurteilt. Jetzt sieht die Staatsanwaltschaft ihre Tweets als legitime
> Meinung.
Bild: Hat Pucca junge Menschen zum Drogenkonsum verführt?
Dass in der Türkei Menschen wegen eines Tweets im Gefängnis landen, ist
nichts Besonderes. Aber dass die Staatsanwaltschaft Revision gegen ein
Urteil einlegt, um einen Freispruch der gleichen Person zu erwirken, die
sie zuvor aufgrund ihrer Tweets angeklagt hatte, ist ein Novum.
Gegenstand dieses überraschenden Vorgangs ist die türkische Influencerin
Pucca. Sie wurde Mitte Juli zu fünfeinhalb Jahren Haft und einer hohen
Geldstrafe verurteilt, weil sie ihre rund zwei Millionen Follower*innen zum
Drogenkonsum verleitet haben soll. Unter dem Namen Pucca bloggt und
twittert die 32-jährige Selen Pınar Işık Karagöz seit 12 Jahren zu
popkulturellen Themen ebenso wie zu der sexualisierten Gewalt, der sie
durch ihren Stiefvater ausgesetzt war. Damit dürfte sie zu einer der
beliebtesten Figuren im türkischen Internet geworden sein.
Und genau so begründeten die Istanbuler Strafrichter das unverhältnismäßig
hohe Strafmaß. „Die gesellschaftliche Wirkung sozialer Medien“ sei so
stark, dass „eine ideologisch geprägte Organisierung“ der Massen bereits in
mehreren Ländern „zum Umsturz von Regierungen geführt hat. Mit sozialen
Medien die Massen zu erreichen, zu beeinflussen und zu lenken, ist viel
leichter, billiger und effektiver als mit klassischen Medien wie Fernsehen,
Radio oder Zeitung.“
Die nach einer koreanischen Animé-Figur benannte Pucca hatte geschrieben,
sie sei wieder mal „in den Drogensumpf“ einer Reality-Datingshow gestürzt
und die Netflix-Serie Escobar mit den Worten kommentiert, der Kokainhandel
habe manch einer armen Familie in Medellin „Brot auf den Tisch beschert“.
In einem Tweet fragte sie ihre Follower, welche Droge sie am liebsten
ausprobieren würden, wenn sie einen Versuch frei hätten.
## Schockierende Strafen gegen verstörende Meinungen
Für das mit Strafsachen befasste 52. Istanbuler Amtsgericht war klar, dass
damit Millionen ungefestigter, junger Menschen zum [1][Konsum von
Betäubungsmitteln] verleitet wurden und nur ein hohes Strafmaß dem Treiben
ein Ende setzen kann. Die Richter folgten im Wesentlichen der Argumentation
der Staatsanwaltschaft. Mit Pucca ist zum ersten Mal eine Person des
öffentlichen Lebens wegen Verleitung zum Drogenkonsum verurteilt worden.
Dagegen legte gestern die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft in Kartal
Revision ein. Die Anklagebehörde hatte zuvor aus dem öffentlichen Auftritt
der Influencerin die fünf inkriminierten Tweets herausgesucht und zur
Anklage gebracht. Nun fordert sie einen Freispruch für die Influencerin.
Rechtliche Grundlage ist ein Artikel im neuen türkischen Strafrecht, der
ursprünglich aus dem Wiener Übereinkommen von 1988 zur Bekämpfung des
Drogenhandels entlehnt ist. Er stellt das Verleiten zum Drogenkonsum durch
öffentliche Äußerungen oder Publikationen unter Strafe. Doch die
Anwendungspraxis des Artikels ist umstritten.
Strafbar seien öffentliche Äußerungen nur dann, wenn sie tatsächlich zum
Drogenkonsum auffordern und darüber hinaus ein Vorsatz erkennbar sei,
erklärt der Strafrechtler Sinan Altunç, der an der Bahçeşehir-Universität
zu dem Thema forscht. Ist ein solcher Vorsatz nicht erkennbar, gilt der
Grundsatz der Meinungsfreiheit. „Dabei würde ich einen Unterschied zwischen
geteilten Inhalten in den sozialen Medien und Kunstwerken machen“, sagt der
Jurist. Letztere sind besonders geschützt, „selbst wenn sie verstörend oder
schockierend“ sind.
Doch seit der Einführung 2005 wurde der Paragraph unter anderem gegen
Radiosender ins Feld geführt, die Songs wie „Fuck on Cocaine“ spielten. Der
[2][Rapper Ezhel] musste im Mai 2018 sogar für einen Monat in
Untersuchungshaft, da ihm vorgeworfen wurde, durch seine Songs und Posts
zum Cannabiskonsum verleitet zu haben. Der Künstler wurde freigesprochen.
## Kunstfreiheit oder Feindrecht
Die Drogenpolizei führte im Dezember 2018 koordinierte Razzien in 26
Provinzen durch. Der Schlag richtete sich gegen Personen, die im Verdacht
standen, Jugendliche zum Drogenkonsum anzustiften. Dabei wurden elf
Personen festgenommen, unter ihnen auch die Brüder Erdi und Emre Kızgır.
Aktuell stehen die Brüder vor Gericht, weil sie auf ihrem Blödel-Kanal Deep
Turkish Web selbstgedrehte Videos veröffentlichen, in denen sie im Stile
eines Schultheaters erdachte Charaktere parodieren. Mit Beenie und Vollbart
tut einer der Brüder so, als schmeiße er eine Pille, und wird danach vor
einem Hintergrund mit rosa Wölkchen abgebildet. Dieser spießige Humor ist
der Staatsanwaltschaft zu viel, sie fordert zwischen fünf und zehn Jahre
Haft für die Brüder.
Der Strafrechtler Altunç sieht den ungewöhnlichen Paragrafen nicht als
neues Instrument, mit dem die Regierung gegen unliebsame Stimmen vorgeht.
„Wir haben schlicht nicht genug Daten, um zu sagen, dass der Staat auf
diesem Weg in die künstlerische Ausdrucksfreiheit eingreift.“
Problematisch ist für den Juristen nicht das Gesetz, sondern „die Haltung
des Staates zur Meinungsfreiheit. Die erkennt man schon an der hohen Anzahl
betreffender Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof.“ Das türkische
Verfassungsgericht formulierte noch 2014: „Der Staat muss sensibler werden
für seine Verpflichtung, nicht in die Ausdrucksfreiheit von Menschen
einzugreifen, die Kunstwerke schaffen.“
Die Rechtsanwältin Hande Kuday nimmt eine andere Perspektive ein. Mit ihren
eigenen Tweets baute sie während der Gezi-Proteste eine Gegenöffentlichkeit
auf. Für sie ist der Vorwurf der Verleitung zum Drogenkonsum „eines der
alternativen Bestrafungsmittel“ in den Händen derer, die ein „Feindrecht“
im Inneren etablieren wollen. „Ohne sich am gefährlichen Thema der
Meinungsfreiheit die Hände dreckig zu machen, bekommt man ein weites Feld,
um nervende Accounts in die Knie zu zwängen und Furcht unter ihren
Follower*innen zu verbreiten.“
## Trolle und Staatsanwälte
Dass sich die Staatsanwaltschaft nun gegen diese Praxis stellt, dürfte
weitläufige Konsequenzen für die türkische Rechtspraxis haben. Denn sie
argumentiert punktgenau gegen die Urteilsbegründung der Richter an.
„Meinungsfreiheit gilt nicht nur für genehme, harmlose oder irrelevante
Äußerungen, sondern auch für verletzende, unangenehme oder verstörende
Informationen und Gedanken.“ Nicht jede Meinung oder Handlung, die
Reaktionen aus der Bevölkerung hervorrufe, dürfe deshalb gleich als
Verbrechen vor die Justiz gebracht werden.
Bisher zeichnet sich in der vermehrten Anwendung des schwammigen Paragrafen
eine neue Ausrichtung in der türkischen Strafverfolgung ab. Zunächst geht
es gegen Personen des öffentlichen Lebens, die kaum mit politischen
Äußerungen hervortraten. Der freigesprochene Rapper Ezhel steht mit seinen
Songs eher [3][für eine Gegenkultur] als für explizite politische Messages.
Pucca hatte lediglich 2018 den Präsidentschaftskandidaten der CHP, Muharrem
İnce, unterstützt und sich damit Shitstorms von regierungsnahen
Troll-Accounts ausgesetzt. „Sie trägt zur Meinungsbildung bei
Social-Media-Nutzer*innen bei, die sich bisher nicht für Politik
interessierten und auch nicht wählen gingen“, sagt Kuday.
Ins Visier der Verfolgungsbehörden war Pucca 2013 geraten, als sie sich in
einem Tweet über eine Ramadan-Sondersendung im Staatsfernsehen lustig
gemacht hatte. Dort hatte ein Talk-Gast behauptet, es sei unästhetisch und
ungezogen, wenn schwangere Frauen auf der Straße sichtbar seien. Seither
reißen die Repressalien gegen Pucca nicht mehr ab.
## „Brecht ihnen die Füße!“
Zudem ist das Vorgehen gegen die „Verleitung zum Drogenkonsum“ eingebettet
in eine zunehmend harte Politik der türkischen Regierung gegen Drogen. Im
Januar 2018 sagte Innenminister Süleyman Soylu, es sei die Aufgabe der
Polizei, erwischten Drogendealern an Ort und Stelle „den Fuß zu brechen“.
In den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres wurden nach offiziellen
Angaben 83.881 Personen wegen Drogendelikten festgenommen. 2018 wurden rund
154.000 Gerichtsverfahren wegen Drogendelikten eröffnet. 64 Prozent der
Verfahren enden mit Verurteilungen.
Dass die Türkei ein [4][echtes Drogenproblem] hat und zudem als klassisches
Transitland von internationalen Narco-Netzwerken durchzogen ist, steht
außer Frage. Im betreffenden Zeitraum konnte die Polizei nicht nur über
neun Tonnen Heroin, sondern auch fast sieben Millionen Captagon-Pillen und
fünf Millionen Ecstasy-Tabletten beschlagnahmen. Captagon (Fenetyllin) ist
insbesondere unter jihadistischen Kämpfern ein beliebtes Aufputschmittel.
Glücklicherweise trifft die harte Linie nicht alle Menschen, die sich mal
einen schönen Abend machen wollen. Zumindest kam Mehmet Erdoğan, einer der
Neffen des Staatspräsidenten, ungeschoren davon, als er 2010 mit 50 Kilo
Marihuana verhaftet wurde. Da er vor Gericht glaubhaft machen konnte, dass
die gesamte Menge zum Eigenkonsum bestimmt war und er damit nicht dealen
wollte, wurde er mit einer Bewährungsstrafe in die Entzugsklinik geschickt.
Damit dürfte im türkischen Justizsystem ein Präzedenzfall für eine ziemlich
hohe Menge an Eigenbedarf gesetzt worden sein. Dass sein öffentliches
Verhalten aber deshalb gleich andere, ungefestigte Persönlichkeiten zum
Konsum verleiten könnte, wäre wohl nur eine Unterstellung.
Mitarbeit: Meltem Yılmaz
1 Aug 2019
## LINKS
[1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5435871&searchterm=hero%C4%B1n
[2] https://gazete.taz.de/article/?article=!5506037
[3] https://gazete.taz.de/article/?article=!5583755&searchterm=ezhel
[4] https://gazete.taz.de/article/?article=!5598705&searchterm=hero%C4%B1n
## AUTOREN
Oliver Kontny
## TAGS
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Schwerpunkt Türkei
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