# taz.de -- „Sobald sie den Mund verlässt, ist sie eklig “ | |
> Spucken ist natürlich, kann Spaß machen und nützlich sein. Trotzdem | |
> finden die meisten Speichel eklig. Warum eigentlich? | |
Interview Angelika Sylvia Friedl | |
taz am wochenende: Herr Klucken, Sie beschäftigen sich mit Angststörungen | |
und Ekel, wie sind Sie auf das eher abseitige Thema gestoßen? | |
Tim Klucken: Ekel gehört zu den menschlichen Grundemotionen, ich fand ihn | |
schon immer faszinierend. Ein großer Forschungsschwerpunkt in früheren | |
Arbeitsgruppen war die Frage, was im Gehirn passiert, wenn wir uns ekeln. | |
Das Ausspucken betrachten vielen Menschen als ekelhaft. Warum gilt das | |
nicht für den Speichel im Mund? | |
Hier spielen Bewertungsprozesse eine große Rolle. Also wie wir ein | |
Verhalten einschätzen und bewerten. Die Spucke im eigenen Mund ist noch | |
okay. Aber stellen Sie sich vor, Sie spucken auf einen Kaffeelöffel, lassen | |
den fünf Minuten liegen und nehmen ihn dann wieder in den Mund. Die meisten | |
Menschen würden das sehr ungern machen, obwohl eigentlich an der Spucke | |
nichts Schlimmes dran ist. Sobald die Spucke den Körper verlassen hat, | |
finden wir sie eklig. | |
Weil sie nass und glitschig ist? | |
Ja. Ekel kann hervorgerufen werden durch Geschmack oder Geruch, aber auch | |
durch Konsistenz. Europäer bewerten zum Beispiel glibbrige Sachen als eklig | |
oder zumindest als unangenehm. In anderen Kulturen ist das teilweise | |
anders. Wir kennen wenige Speisen, außer vielleicht den Wackelpudding, die | |
eine glibbrige Konsistenz haben. | |
Spucken kann aber auch Spaß machen, wie beim Kirschkernspucken, oder ist | |
nützlich, wenn man mit seinem Speichel eine beschlagene Taucherbrille klar | |
wischt. | |
Das ist wieder ein Beleg dafür, dass es nicht per se um die Spucke geht, | |
sondern dass die Bewertung einen entscheidenden Anteil hat. Die Psychologen | |
nennen das ABC-Modell. A ist der Auslöser, B die Bewertung und C sind die | |
Konsequenzen nach dem englischen Wort „consequences“. Nicht der Auslöser, | |
die Spucke, ist entscheidend, ob wir etwas gut oder schlecht finden, | |
sondern unsere Bewertung. Wir gucken Leuten beim Weitspucken zu und feuern | |
sie an. In einer anderen Situation beobachten wir Leute, wie sie ausspucken | |
und sind angeekelt. Im Grunde ein und dieselbe Situation. In der | |
psychologischen Forschung gibt es viele Belege, dass die Bewertung über | |
unsere Gefühle entscheidet. | |
Funktioniert das auch in ganz anderen Kontexten? | |
Ein klassisches Beispiel: Sie wohnen in einem Dorf und nachts klappert das | |
Fenster. Sie denken, ein Einbrecher kommt, Sie bewerten also. Dann kriegt | |
man Angst, das wäre die Konsequenz. Sie können aber auch denken, ach, ich | |
habe vergessen, das Fenster zu schließen, und ärgern sich über Ihre | |
Vergesslichkeit. Derselbe Auslöser, aber ganz unterschiedliche Bewertungen. | |
Warum spucken Menschen in der Öffentlichkeit aus? Man könnte den Speichel | |
doch auch hinunterschlucken oder in ein Taschentuch tun. | |
Hier spielt wohl das sogenannte Lernen vom Modell eine Rolle. Man sieht es | |
von anderen im Fernsehen und auf der Straße. Auch gesellschaftlich | |
tradierte Normen wirken, wenn Kinder zum Beispiel hören, es ist eklig, die | |
eigene Spucke hinunterzuschlucken. Ich zum Beispiel mag Ausspucken | |
überhaupt nicht. Da habe ich noch meine Mutter im Ohr, wie sie sagt: „Man | |
spuckt nicht aus.“ | |
Die Meinungen dazu haben sich im Laufe der Zeit geändert. | |
Genau, im Mittelalter hatten die Leute keine Probleme mit dem Ausspucken. | |
Es gab Spucknäpfe, und es war in Ordnung, beim Essen unter den Tisch oder | |
hinter sich zu spucken. Später wurde Spucken dann als unanständig | |
betrachtet. | |
Aus welchen Gründen? | |
Zum Teil vielleicht, weil Speichel Überträger von Krankheiten ist wie zum | |
Beispiel bei Tröpfcheninfektionen. Das wusste man früher nicht. Seitdem man | |
das weiß, wurde Spucken als gefährlich betrachtet. Das ist sicher nicht der | |
einzige Grund, warum Spucken sanktioniert wurde. Auch die Tendenz des | |
Menschen, sich von anderen abzuheben, könnte es erklären. | |
Hat die Sanktionierung auch damit zu tun, dass die Menschheit nach der | |
These des Soziologen Norbert Elias mit fortschreitender Zivilisation immer | |
kultivierter geworden ist? | |
Na ja, was heißt kultiviert? Kultiviertheit ist meiner Meinung nach zu | |
mehrdimensional und vielschichtig, als dass es auf Ausspucken zu reduzieren | |
wäre. | |
Stimmt es, dass Männer mehr ausspucken als Frauen? | |
Vom Gefühl her schon. Ich habe aber keine Studie gefunden, die das | |
untermauern kann. Vielleicht werden Frauen mehr als Männer sanktioniert. | |
Wenn ein kleines Kind spuckt, werden wahrscheinlich 80 von 100 Eltern ein | |
Mädchen strenger beurteilen als einen Jungen. Das ist aber eine Hypothese. | |
Warum spucken Fußballer während des Spiels dauernd aus? | |
Beim Leistungssport atmen wir vermehrt über den Mund. Dadurch trocknet der | |
Mund schneller aus und die Speichelkonsistenz ändert sich. Es fühlt sich | |
klebrig an. Es ist dann wahrscheinlich angenehmer, den Speichel | |
auszuspucken. Dann kommt noch der Nachahmungseffekt. Die anderen spucken, | |
also mache ich das auch. | |
Warum sind wir beschämt, wenn uns jemand anspuckt oder wenn auf unsere | |
Sachen gespuckt wird? | |
Zum einen geht es wieder um Bewertungen. Man lernt, Spucken gehört sich | |
nicht. Wenn ein Kind ein anderes anspuckt, wird es von den Lehrern, Eltern | |
und Erziehern geschimpft. Es hört: Das darfst du auf keinen Fall wieder | |
tun! Es ist auch eine Sache der Erziehung. Kinder fragen: Was soll ich tun, | |
ich werde von dem Paul gestoßen. Dann sagen die Eltern: Ruf doch einen | |
Erzieher oder zur Not schubse zurück. Eltern würden wohl niemals sagen: | |
Spuck ihm doch ins Gesicht. Aber ich erinnere mich auch an eine Umfrage, wo | |
manche gesagt haben, dass sie Anspucken nicht so schlimm finden. Spucke | |
kann man abwischen, sie tut nicht weh. Sie fanden es schlimmer, eine | |
runtergehauen zu bekommen. In einigen Interviews, die ich geführt habe, | |
wurde das explizit so gesagt. | |
Aber Spucken ist doch gesellschaftlich mehr geächtet? | |
Richtig. Eine Vermutung ist, dass durch Spucken eher Verachtung ausgedrückt | |
wird. Beim Schlagen und Treten sind die Hauptemotionen Wut und Ärger. Die | |
wenigsten spucken auf jemanden aus Ärger, sondern weil sie ihn oder sie | |
verachten. Aus diesem Grund ist es wahrscheinlich auch geächteter, weil uns | |
in der Erziehung beigebracht wird, dass man Menschen nicht verachten soll. | |
Mit anderen Worten: Mit Schlägen wird oft ein bestimmtes Verhalten | |
sanktioniert, beim Anspucken wird der ganze Mensch herabgesetzt, „du bist | |
gemein, bist mies“. | |
Angenommen, ich ekele mich vor Speichel und Spucke. Wäre das therapeutisch | |
zu behandeln? | |
Da muss man differenzieren. Reine Angststörungen sind im Allgemeinen | |
leichter zu behandeln als Störungen, die mit Ekelgefühlen verbunden sind. | |
Durch Studien im Grundlagenbereich haben wir herausgefunden, dass Ekel | |
schwieriger zu verändern ist als Ängste. | |
Wieso ist das so? | |
Also grundsätzlich ist Ekel etwas positives. Ekel schützt uns vor | |
verdorbenen Sachen und vor Vergiftungen. Wer keinen Ekel kennt, hat ein | |
großes Problem. Es ist eine sehr mächtige Basisemotion. Wer etwas | |
Verdorbenes zu sich genommen hat, kann das nicht mehr zurücknehmen. | |
20 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Angelika Sylvia Friedl | |
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