# taz.de -- Viel. Heiß. Ungiftig. | |
> In der Prignitz, ehemals Grenz- und Sperrgebiet der DDR, galt lange Zeit | |
> schon Majoran als verdächtig. Da nun auch der „Knieperkohlkönig“ nicht | |
> mehr kocht, hilft nur noch Hoffnung | |
Von Philipp Maußhardt (Text) und Karoline E. Löffler (Illustration) | |
Die Bahn ist schuld. Es ist ja immer gut, zu wissen, wer schuld ist, und | |
hier kann ich es so klar sagen: Die Bahn ist schuld, dass die Prignitz | |
heute eine verlorene Region ist, abgelegen, schwer erreichbar, ausgeblutet. | |
Einer der am dünnsten besiedelten Teile der Republik. | |
Als die Eisenbahn noch von Wittenberge über Lenzen, Lüneburg bis nach | |
Hamburg fuhr, war die Prignitz ein blühender Landstrich, lieferte | |
landwirtschaftliche Produkte auf den Wochenmarkt nach Hamburg, und den | |
guten Spargel rissen die hanseatischen Hausfrauen den Händlern regelrecht | |
aus ihren Körben. Er war in Banderolen eingewickelt, auf denen stand: | |
„Soll’n des Mannes Augen glänzen, gib ihm Spargel, nur aus Lenzen.“ | |
Dann kam der Zweite Weltkrieg. Die Amis zerbombten die Brücke über die Elbe | |
und die Russen bauten anschließend die Schienen ab, um sie nach Sibirien zu | |
schaffen. Der Zugverkehr wurde eingestellt, die Prignitz war abgehängt. | |
Glänzen tat hier nichts mehr. Zum „Sperrgebiet“ erklärt, wurden entlang d… | |
innerdeutschen Grenze Truppen stationiert. Und die hatten Hunger. | |
Der Chefkoch der DDR-Grenztruppen in der Prignitz war ein Sachse. Jürgen | |
Srajer, Offizier der NVA, versorgte die Soldaten mit ausreichend Kalorien, | |
um sie für ihren Dienst fit zu halten. Zehn Stunden lang auf einem Wachturm | |
sitzen und mit dem Feldstecher die Bewegungen des Klassenfeindes auf der | |
anderen Seite der Elbe beobachten war schließlich eine aufreibende Arbeit. | |
In seinen Erinnerungen an jene Zeit schreibt Srajer: „Wir kochten nach dem | |
Prinzip: Viel. Heiß. Ungiftig.“ | |
Nach der Wende eröffnete Srajer einen Gasthof in der Prignitz und wurde der | |
bekannteste Koch der Region. Der „Knieperkohlkönig“. Mit seinem Restaurant | |
Dörpkrog an Diek in Abbendorf schaffte er problemlos den Sprung von der | |
Nationalen Volksarmee zum erfolgreichen Gastronomen. Viele jahrelang war | |
Srajer der Brandenburger Vorzeigekoch auf der Grünen Woche in Berlin, der | |
die ländliche Küche der Prignitz propagierte. Ein Wende-Wunder. | |
Heute ist der Dörpkrog in Abbendorf geschlossen. Srajer ging vor ein paar | |
Jahren in Ruhestand, den Gasthof übernahm erst seine Tochter, musste aber | |
nach einigen Jahren schließen. Ein zweiter Anlauf im Jahr 2017 überdauerte | |
nicht einmal ein Jahr. Das wirkliche Vermächtnis Jürgen Srajers ist aber | |
ohnehin seine Rezeptsammlung: „Das Prignitz Kochbuch“, 2007 erschienen, | |
verspricht „Geschichten und Rezepte zwischen Knieperkohl und Elbdeich“ und | |
hat 200 Seiten. | |
Die meisten Gerichte stammen nicht von Koch Srajer selbst, er hat die | |
Landbewohner aufgefordert, ihm Rezepte zu schicken. Und je länger man in | |
diesem Kochbuch blättert und je mehr man von den gut 200 Rezepten liest, | |
umso deprimierter wird man. Beispiel „Nudelsalat aus Lenzen“: Nudeln im | |
Wasser 8 Minuten kochen und in einer Schüssel mit 100 Gramm Bierschinken | |
vermischen. Salz, Pfeffer, Zucker Essig Öl drüber und fertig. Wer dafür ein | |
Kochbuch braucht, weiß wahrscheinlich auch nicht, dass man Reis nicht roh | |
isst. | |
Das Buch belegt leider vor allem eines: Es gibt keine eigenständige Küche | |
in dieser Region. Mal abgesehen vom schon erwähnten Knieperkohl, einem nur | |
in der Prignitz bekannten Gericht aus drei verschiedenen Kohlarten, | |
unterscheiden sich die Rezepte in ihrer Schlichtheit nicht von denen | |
anderer norddeutscher Landstriche: Kartoffelsuppe, Pellkartoffeln, | |
Kartoffelpuffer, Saucen aus Mehl und Butter, viel Speck und wenn überhaupt | |
Kräuter, dann Schnittlauch und Petersilie. | |
Die im Buch enthaltenen Geschichten sind übrigens genauso schlicht gewürzt | |
wie die meisten der Gerichte. So erfährt man beispielsweise, dass ein Bauer | |
einmal einen „Pfannkuchen“ (anderswo heißt er Berliner oder Krapfen) | |
gekauft, und das Pflaumenmus für eine verfaulte Masse gehalten habe. | |
Nun ist es leicht, sich darüber lustig zu machen. Dabei weiß man auch in | |
anderen (meist südlichen) Bundesländern, wo man sich gern etwas auf seine | |
kulinarischen Traditionen einbildet, noch nicht sehr lange, wie man | |
Zucchini oder Gnocchi schreibt und ausspricht. Alle Küchen dieser Welt | |
wurden immer dann herausgefordert und in ihrer Entwicklung angestoßen, wenn | |
sie mit neuen Einflüssen und Produkten konfrontiert waren – in | |
Westdeutschland waren das die Einwanderer aus Südeuropa vor rund 50 Jahren. | |
In einem „Sperrgebiet“, wie es ein bedeutender Teil der Prignitz viele | |
Jahre war, war hingegen schon der Majoran verdächtig. Insofern ist „Das | |
Prignitz Kochbuch“ eher ein historisches Dokument, das weniger in Küchen | |
als in Volkskundemuseen gelesen werden sollte. | |
Hauptsache viel. Hauptsache heiß. Hauptsache ungiftig. So wird in der | |
Prignitz wohl noch einige Generationen lang gekocht werden. Immerhin gibt | |
es Lichtblicke. Drei Dörfer von mir entfernt hat ein Koch aus Köln den | |
Gasthof von Deibow übernommen und in der näheren Umgebung mit seinen | |
Gerichten schon für erhebliches Aufsehen gesorgt. In Wittenberge kocht ein | |
Franzose aus der Normandie im alten „Kranhaus“ auf Sterne-Niveau. Leider | |
ist es dort meist leer. | |
Es passiert also etwas, und in einigen Jahrzehnten wird die Prignitz | |
vielleicht das sein, was seinerzeit auf den Spargel-Banderolen versprochen | |
wurde: „Soll’n des Mannes Augen glänzen, musst du kochen wie in Lenzen.“ | |
Dann muss sich auch die Bahn überlegen, ob sie die alten Schienen nicht | |
doch wieder dort hin verlegt. | |
Ein Schwabe in der Prignitz | |
Kulinarisch wurde unser Autor in Frankreich und Süddeutschland | |
sozialisiert. An dieser Stelle berichtet er einmal im Monat, wie er sich | |
die Lebensmittelrealität Brandenburgs erschließt. | |
27 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Philipp Mausshardt | |
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