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# taz.de -- Faden in die Welt
> Schlagfertig und voller Situationskomik – Rachel Kushners Buch „Ich bin
> ein Schicksal“ ist ein furioser Roman über die „freie Welt“ und deren
> Gefängnisinsassen
Bild: Wird international gefeiert: die nordamerikanische Autorin Rachel Kushner
Von Eva Behrendt
Sie hat es doch so gewollt.“ Dieser Satz fällt in verschiedenen
Variationen, als es der noch minderjährigen Sanchez verwehrt wird, ihr im
Gefängnis entbundenes Baby kurz nach der Geburt wenigstens einen Moment
lang in den Armen zu halten, und wann immer Romy Hall, die Ich-Erzählerin,
darum bittet, wenigstens wissen zu dürfen, wo die Behörden ihren Sohn
Jackson untergebracht haben. „Das hätten Sie sich früher überlegen müssen…
Die Wärter der Justizvollzugsanstalt Stanville California begründen die
zahllosen Unmenschlichkeiten des Systems, dessen Handlangerinnen sie sind,
mit den Verbrechen der Insassinnen. Und sicher, unschuldig im Sinne des
Gesetzes ist hier kaum eine. Doch ebenso wenig sind sie grundlos schuldig
geworden: Das macht die erbitterte Logik des Gesetzesvollzugs so
alttestamentarisch grausam und gnadenlos.
Rachel Kushners dritter Roman, „Ich bin ein Schicksal“ (im amerikanischen
Original „The Mars Room“, übersetzt von Bettina Abarbanell) beginnt als
Ich-Erzählung seiner Protagonistin Romy Hall. Sie wurde für den Mord an
ihrem Stalker Kurt Kennedy zu zweimal „lebenslänglich“ plus sechs Jahren
Haft ohne Bewährung verurteilt. Die Erzählung weitet sich zu einer
mehrstimmigen nordamerikanischen Gesellschaftsgeschichte, aufgerollt von
ihrem Ende her. Kushners Komposition hat dabei wenig mit dem üblichen
Plot-Schematismus aus mehreren Parallelhandlungen zu tun, die sich
abwechselnd von einem Cliffhanger zum anderen hangeln. Ihre Gewichtungen
sind anarchischer und dennoch bedacht zugleich.
So beginnt der Roman mit der Verlegung von Gefangenen in eine andere
Vollzugsanstalt. Eine trostlose Nachtfahrt durch agrarindustrielle
Landschaften, „Hauptsache, der Normalbürger bleibt von unserem Anblick
verschont“, an deren Ende es einen Todesfall gibt. Und eine Geburt. Damit
verwoben erzählt Romy Hall, vollkommen frei von Selbstmitleid, einen Teil
ihrer Geschichte: vom Aufwachsen in den räudigeren Vierteln von San
Francisco Ende des letzten Jahrhunderts, nicht sonderlich behütet von einer
alleinerziehenden Mutter. Von Teenager-Melancholia, Latina-Freundinnen,
Drogenexperimenten, vom Mitgenommenwerden von unbekannten Männern.
Davon, fürs College sicher intelligent genug, jedoch zu „deprimiert“ und
nihilistisch gewesen zu sein. Vom Lap-Dancing im Mars Room, einem
Striplokal im Tenderloin. Von Jackson, ihrem Sohn, dessen Vater an einer
Überdosis stirbt und der vor allem bei den Nachbarn aufwächst. Von Jimmy
Darling, ihrem bürgerlichen Freund – „er glaubte, dass sein Leben einen
Sinn hat“. Und von Kurt Kennedy, einem Kunden, der eine krankhafte
Obesession für sie entwickelt und den Romy im Affekt und aus Notwehr
erschlägt.
Das Gerichtsverfahren und der Prozess, bei dem der mittellosen Stripperin
nur ein alter, überforderter Pflichtverteidiger mit exakt den falschen
Ratschlägen zur Seite steht, bringt Romy schließlich in den Knast. Rachel
Kushner, deren Romane „[1][Flammenwerfer“] (dt. 2015) und „[2][Telex aus
Kuba“] (dt. 2017) internationale Bestseller wurden, hat sich über Jahre im
Rahmen der Menschenrechtsorganisation Justice Now für Gefangene engagiert;
mit einigen war sie schon vorher eng befreundet. Ihr Wissen über das Leben
im Knast bezieht Kushner merklich aus erster Hand. Sie beschreibt komplexe
Kommunikationssysteme der Häftlinge im Todes- oder Isolationstrakt,
irrwitzige Methoden, um alkoholische Getränke zu brauen und Handel zu
treiben, hochemotionale Beziehungen in Ersatzfamilien, aber auch ein
internes social ranking nach Verbrechen, Hautfarbe und mitunter unklarem
Geschlecht.
Schlagfertig und voller Situationskomik schildert Kushner im Mittelteil
diese Parallelgesellschaft in einer industriell-technologischen
Verwahrungsarchitektur, nicht nur aus Romys Perspektive. So etwa aus der
von Sammy Fernandez, Romys Zellengenossin, einer Latina, die praktisch zur
Hälfte im Knast aufgewachsen ist, die auch immer mal wieder entlassen wird,
aber wer weiß, für wie lange.
Oder von Betty LaFrance aus dem Todestrakt, die mit einem kriminellen Cop
zusammen war, Doc. Durch seine Geschichte wirft Kushner auch einen Blick in
den Männerknast. Doch das eigentlich Atemberaubende ist die Verzahnung von
Polizei und Verbrechen in seiner Gestalt. Für diese Parts erfindet Kushner
ganz eigene, coole Rhythmen. Oder von Knastlehrer Gordon Hauser, der
einigen willigen Analphabetinnen das Lesen und Schreiben beibringt und Romy
mit Lektüre versorgt, tatsächlich aber bald von den Frauen als Bote in die
„freie“ Welt benutzt wird.
Durch Hauser, der auch jenseits des Gefängnisses ein Außenseiter von
Thoreau’schem Zuschnitt ist, spiegelt Kushner auf distanzierte Weise ihre
eigene Perspektive: involviert und engagiert, aber auch manipulierbar, weil
nicht ohne eigene Interessen. Überhaupt sind es die fließenden Übergänge
zwischen innen und außen, Recht und Unrecht, Moral und Willkür, die sich im
letzten Drittel des Romans fast ins Surreale steigern.
Geradezu symphonisch orchestriert Kushner nun ihre Erzählfäden. Kurt
Kennedys ruhelose letzten Tage, eine Art Gefängnisrevolte und
(dokumentarische) Auszüge aus den Tagebüchern des Una-Bombers Ted Kaczynski
kommen hinzu. Als Romy durch eine Verkettung von Umständen der Ausbruch
glückt, gelangt sie, wie ihr scheint, von einem Knast in einen noch viel
größeren: die ausgebeutete Natur in Gestalt von endlos leeren, maschinell
bewirtschafteten Mandelplantagen bildet die nächste Stufe der Unfreiheit.
Wie Rachel Kushner diese apokalyptische Einsamkeit auf gleich mehreren
Ebenen schildert und parallel führt, mit großer Härte und voller Empathie,
ist analytisch, zutiefst deprimierend und aufwühlend zugleich.
Trotz allem reißt Romys letzter Faden in die Welt – Jackson, oder fast nur
noch die Idee von ihm – nicht. Auch wenn der Staat ihn längst
durchschnitten hat.
27 Jul 2019
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## AUTOREN
Eva Behrendt
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