Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wächter der Bücher
> Stillgestellte Zeit: In Adlershof kann man die Wohnung der 1983
> gestorbenen Schriftstellerin Anna Seghers besichtigen. Sogar ihr
> Staubtuch hängt noch über dem Spülbecken – und die Schreibmaschine ist
> auch noch da
Bild: Da steht sie, die Remington- Schreibmaschine von Anna Seghers
Von Annina Bachmeier
Auf dem Bücherregal in Anna Seghers’ Wohnzimmer in der Anna-Seghers-Straße
81 stehen viele kleine Figuren. Bunte Ziegen und Pferde mit Hörnern, ein
brüllendes Gesicht in Rot mit vier Augen und kleinen Totenköpfen auf der
Stirn oder zwei orange gestreifte Tiger mit überdimensionalen
Schnurrbarthaaren, die über den Büchern thronen. Es heißt, Anna Seghers
habe eine Leidenschaft fürs Souvenirkaufen gehabt, eine andere Legende
besagt, sie habe es nicht leiden können, wenn jemand ihre Bücher aus den
Regalen zog, und sie habe die Figuren als Wärter der Bücher dort
positioniert.
Die meisten Räume der Wohnung, die 1985, zwei Jahre nach dem Tod der
Schriftstellerin, von der Akademie der Künste der DDR zur
Anna-Seghers-Gedenkstätte gemacht wurden, sind seit Seghers‘ Tod nicht
verändert worden – an einer Pinnwand hängen Erinnerungsfotos, in der Küche
steht noch das Geschirr in den Schränken, ein Staubtuch, das Anna Seghers
gehörte, hängt über dem Spülbecken. Über allem liegt die etwas dumpfe
Stille alter Wohnungen, sodass man sich beim Betreten fühlt wie
zurückversetzt in die Vergangenheit.
Will man das Museum besuchen, klingelt man an der Tür eines unauffälligen
Mietshauses oder man vereinbart vorab telefonisch einen Extratermin. In der
Wohnung im dritten Stock des Hauses bekommt jeder Besucher eine
individuelle Führung durch die verschiedenen Räume, außerdem gibt es eine
Ausstellung mit den Werken von Anna Seghers, deren Übersetzungen in
verschiedenste Sprachen, Postkarten, Zusatzliteratur und Infomaterial über
die Schriftstellerin.
Die Bibliothek hinter den Figuren im Wohnzimmer stammt größtenteils aus
Anna Seghers’ Jugend. Als die Nazis 1933 die Macht übernahmen, musste sie,
die wegen ihrer jüdischen Herkunft und ihrer schriftstellerischen Tätigkeit
verfolgt wurde, sehr schnell aus Berlin fliehen, die Bücher kamen mit. Kurz
nachdem die Deutschen Paris besetzt hatten, wurde Seghers’ Mann László
Radványi in einem südfranzösischen Arbeitslager interniert. Seghers und
ihren beiden Kindern gelang in letzter Minute die Flucht aus Paris nach
Marseille und von dort weiter nach Mexiko. Diesmal musste sie ihre Bücher
zurücklassen, und über viele Jahre glaubte sie, sie verloren zu haben.
Seghers’ Sohn, der nach dem Krieg in Paris studierte, fand die
Jugendbibliothek seiner Mutter eines Tages hinter einer Mauer, in Kisten
verpackt, im Keller der früheren Pariser Wohnung der Seghers.
Die Flucht aus Paris, die Zeit in Marseille, die Ungewissheit und die
Trauer über den Verlust ihrer Familie, vieler Freunde, also ihres ganzen
Lebensrahmens, bilden den Hintergrund für ihren bekanntesten Roman,
„Transit“, dessen Handlung auch die Grundlage von Christian Petzolds
gleichnamigem Film von 2018 ist. Petzold siedelt die Geschehnisse von Anna
Seghers’ „Transit“ dabei in einem Frankreich der Gegenwart an, wodurch
Fragen nach Flucht und Vertreibung im Jetzt gestellt und gleichzeitig
Parallelen zur Gesellschaft der NS-Zeit gezogen werden.
Als Anna Seghers nach dem Krieg 1947 zurück ins zerstörte Berlin kam,
fühlte sie sich zunächst einsam, sie lebte in Hotels oder bei Freunden. Ihr
Mann war in Mexiko geblieben, ihre Kinder studierten in Paris. Als ihr Mann
nach Berlin zurückkam, zogen sie in die Wohnung in der Volkswohlstraße 81,
die später in Anna-Segehrs-Straße umbenannt wurde.
Die Remington-Schreibmaschine, auf der Anna Seghers „Transit“ und viele
andere Romane und Erzählungen geschrieben hat, steht noch heute in ihrem
Arbeitszimmer in Adlershof, daneben liegt auf einem Notizblock ihre
rosa-beige Brille in Katzenaugenform.
Anna-Seghers-Museum, Anna-Seghers-Str. 81, Adlershof, geöffnet dienstags
und donnerstags von 10 bis 16 Uhr oder n. Vereinb. [email protected]
11 Jul 2019
## AUTOREN
Annina Bachmeier
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.