# taz.de -- „Kunst ist gemeinschaftliches Tun“ | |
> Ist es nicht toll, wenn Kinder im Museum malend vor Picasso sitzen? Der | |
> Gebrauch von Kunst ist es, was Stefan Ripplinger interessiert. Ein | |
> Gespräch über Missverständnisse, Überschüsse und sein Buch | |
> „Kommunistische Kunst“ | |
Bild: Gucken ist schon erste Aneignung: Kinder vor Kunst im Bröhan-Museum | |
Interview Jürgen Kiontke | |
Der Kritiker Stefan Ripplinger rät mit seinem Buch „Kommunistische Kunst“ | |
zu einem anderen Blick auf Kunst: Nicht das Objekt, sondern sein Gebrauch | |
ist das entscheidende Kriterium für seine Anschauung. Wo sie sich in seinem | |
Leben zeigt, hat der Autor über ein Jahr in einem Tagebuch festgehalten. | |
Ästhetisch neue Bezüge entstehen in Nachrichten, Träumen, Straßenszenen. Wo | |
immer Menschen zusammenkommen, entstehen soziale Kunstwerke oder werden | |
bestehende in Gebrauch genommen. Diese „kommunistische“ Kunst braucht | |
keine Partei, sie bildet selber eine. In einem chaotischen Raum wie Berlin, | |
wo selten etwas wie gedacht funktioniert, sind die Voraussetzungen fürs | |
spontane Kunsterleben notgedrungen bestens. Ein Gespräch. | |
taz: Herr Ripplinger, dieser Tage erreicht uns die Nachricht, Leonardo da | |
Vincis Gemälde „Salvator Mundi“, das 2017 für 450 Millionen Dollar über … | |
Tisch ging, hänge derzeit auf einer privaten Luxusyacht, ist also quasi der | |
Öffentlichkeit entzogen. Ihre These ist: Kunst bestimmt sich nach ihrem | |
Gebrauch. Müsste sie, populäre Debatten und den Titel Ihres Buches im | |
Blick, enteignet werden? | |
Stefan Ripplinger: Alles, was in gemeinschaftlichen Gebrauch genommen wird, | |
ist damit angeeignet und muss nicht mehr enteignet werden. Wenn es einem | |
Meschuggenen einfällt, den „Salvator Mundi“ zu spielen, oder wenn | |
Künstlerinnen und Künstler auf irgendeine Weise mit diesem Bild arbeiten, | |
gehört es uns auch schon. Auf die Originale ist gepfiffen. | |
Aber der heutige gemeinschaftliche Gebrauch des Kunstwerks besteht häufig | |
darin, dass man es im Museum abstellt und dafür Eintritt kassiert. Wie sähe | |
denn eine alternative Nutzung der Kunst jenseits dessen aus? | |
Dass ein Werk im Museum hängt, heißt noch nicht, dass es in einen Gebrauch | |
genommen wird. Ich sehe aber manchmal Kindergruppen im Museum Klees oder | |
Picassos abmalen, da fängt der Spaß doch an. Um ein Beispiel zu geben, das | |
ich in meinem Büchlein nicht erwähne: Ernst Herhaus erzählt in seinem Buch | |
„Phänomen Bruckner“, er habe sich regelmäßig mit einer Gruppe trockener | |
Alkoholiker getroffen, um jeweils die Einspielung einer Bruckner-Sinfonie | |
anzuhören. Alles, was aus einem solchen Treffen an Eindrücken, Gesprächen, | |
Gebilden entsteht, meine ich. Ich meine vor allem die offenen Enden. Kunst | |
ist gemeinschaftliches Tun, das seine Zwecke erst herausbildet. | |
Wo Menschen also etwas zusammen lesen, vorführen oder betrachten, entstehen | |
in der Kunst neue Zwecke. Sie sagen, ein noch so verwickeltes Musikstück | |
reiche niemals an die Komplexität heran, die erreicht wird, wenn eine | |
aufgewühlte Menge einen an sich nichtssagenden Gassenhauer raushaut. Was | |
wird man mit dieser neuen Perspektive erleben? | |
Nichts anderes als das, was wir ohnehin sehen, ich schärfe lediglich den | |
Blick für das Selbstbezügliche und Sinnliche, für das „Wie“ unserer | |
Kommunikationen und Produktionen. Habe ich mir bei Roman Jakobson | |
(russischer Semiotiker; d. Red.) abgeschaut, ich nenne es die „ästhetische | |
Funktion“. Sie schafft die Voraussetzung für eine neue Verbindung mit | |
anderen. | |
Kann es eine kommunistische Kunst im Kapitalismus geben, braucht sie nicht | |
die kommunistische Gesellschaft? | |
Absolut. Aber ich denke mir die Revolution nicht religiös, als eine | |
schlagartige Verwandlung aller Dinge. Der Kommunismus muss schemenhaft, als | |
noch unbebilderte Sehnsucht schon vorhanden sein, sonst wüssten wir nicht, | |
wohin wir wollen. | |
Wenden sich die Leute nicht ab, wenn sie das Wort „Kommunismus“ hören? Oder | |
kommen sie gerade deshalb? | |
Auf meine Büchlein gibt es nie allzu viele Reaktionen, das war diesmal auch | |
nicht anders. Aber ich hatte eine Besprechung in der UZ! (Wochenzeitung der | |
DKP; d. Red.) Besser kann es doch gar nicht mehr kommen. Außerdem verkaufen | |
wir bereits die zweite Auflage. | |
Für die Geschichte der künstlerischen Produktion von der Steinzeit bis | |
heute braucht es bei Ihnen wenige Seiten. Ist seitdem nichts mehr passiert? | |
Nein, unendlich viel, aber wichtiger als der Unterschied zwischen dem | |
Orphismus und dem Fauvismus ist mir, was uns mit knorrigen Leuten | |
verbindet, die vor 30.000 Jahren Steine zugehauen haben. | |
Sie sprechen von diesen frühen Epochen, in denen die Kunst Teil von | |
Gemeineigentum und gemeinschaftlicher Praxis, also nicht entfremdet, | |
gewesen sei. Gab es diesen Urzustand von Kunst überhaupt? Kann es nicht | |
sein, dass der erste Künstler schon ein Freak war, dem man gesagt hat: „Geh | |
uns nicht auf die Nerven, geh weg mit deinem Kram“? | |
Den marxistischen Begriff der Entfremdung sollten wir von der Fremdheit | |
unterscheiden. Wenn ich eine Figur auf eine Felswand klöppele, rücke ich | |
sie ab und erzeuge so eine Fremdheit. Auf diese Weise wird aber die | |
Produktion ins Bewusstsein gehoben, ein Verhältnis der Betrachter | |
untereinander entsteht. Bei Marx ist es genau umgekehrt, die | |
kapitalistische Entfremdung lässt die Produktion verschwinden, verdinglicht | |
die Verhältnisse. Und, ja, die Künstler waren wie die Priester und | |
Schamanen oft Außenseiter, aber gerade das verlieh ihnen eine wichtige | |
Funktion in der Gruppe. Heute sind sie Kleinunternehmer. | |
Sie haben ein Jahr lang Ihre tägliche Erfahrung mit der Kunst | |
protokolliert: Ein Kunstwerk, stellen Sie fest, entwickelt sich immer neu | |
mit seiner Anschauung. | |
Je nachdem, wie sich die Produktivkräfte entwickeln, entwickelt sich auch | |
unser Verhältnis zur Welt. Ob sie es will oder nicht, Kunst steckt da mit | |
drin. Es kann einer seine Pigmente noch selbst anmischen, am Ende erscheint | |
sein Gemälde doch auf irgendeinem Monitor und es wird anders darüber | |
diskutiert als vor 500 Jahren. | |
Ihr Tagebuch enthält Notizen über Vorkommen und Gebrauch von Kunst mitten | |
in Ihrem Berliner Alltag. Muss man Berlin, wo kaum etwas funktioniert, wie | |
es sollte, nicht komplett zur künstlerischen Praxis erklären? | |
Was ich damit meine: Die Referenz, also der Verweis, ist oft das, was Werk | |
und Welt miteinander verbindet. Klassisches Beispiel: Napoleon bei | |
Stendhal. Ist das die historische Gestalt, ist es eine Fiktion? Wie | |
funktionieren Referenzen im Alltag? Wo gehen sie ins Leere, wo stellen sie | |
unmögliche Verbindungen her? Das sind die Fragen, die ich mir stelle. Ich | |
möchte die ästhetische Dimension unseres Tuns und Lassens bewusst machen. | |
Da wird das, was, pragmatisch gesehen, nicht funktioniert, zu etwas, was, | |
ästhetisch gesehen, fantastisch funktioniert. Missverständnisse, Kalauer, | |
Überschüsse, Späße, Fehler, Tragisches – das ist alles Material des | |
Ästhetischen. Neukölln ist voll davon, ein wahres Wunder. Ich betrachte | |
halt nicht ein Werk, sondern seinen Gebrauch. Das Werk spricht bei mir | |
erst, wenn es gebraucht wird. Völlig neu ist das allerdings nicht. Wenn | |
sich Marcel Duchamp mit Ludwig Wittgenstein zum Tee verabredet hätte, | |
hätten sie wohl auch so darüber gesprochen. | |
Bei uns im Haus wohnt ein junger Typ, der gerade mit der Kunst anfängt. Was | |
würden Sie ihm zum Berufsstart raten? | |
Hochschule und Suhrkamp-Taschenbücher vergessen, bitte mit ganz normalen | |
Leuten reden. | |
29 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Kiontke | |
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