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# taz.de -- Jenseits des Marktdiktats
> Die Neue Heimat stellte in den Wirtschaftswunderjahren und danach
> massenhaft bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung – eigens geschaffene
> Steuerbegünstigungen machten es möglich. Der Gewerkschaftskonzern
> scheiterte an sich selbst, nichtsdestotrotz ist sein Wirken ein Menetekel
> für die heutige Politik
Bild: „Neu-Altona“: Das größte Wiederaufbaugebiet Hamburgs wurde von der …
Von Bettina Maria Brosowsky
Wohl selten kam eine Architekturausstellung so zur rechten Zeit wie das
Mammutunterfangen über die gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaft
„Neue Heimat“, jene „Sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten“, so der
Untertitel. In den 1980er-Jahren skandalträchtig gescheitert, galt ihr
programmatisches Vermächtnis lange als diskreditiert. Und nur durch
beherztes Zugreifen des Architekturarchivs der Hamburgischen
Architektenkammer konnte 1989 überhaupt noch Belegmaterial der
Betriebsaktivität, schon zur Vernichtung zusammengestellt, geborgen werden.
Darunter sind eine Dokumentation aus 25.000 professionellen Fotos, Filme
von über 20 Stunden Spieldauer sowie Pläne und Modelle, die in jahrelanger
Arbeit erschlossen und digital aufbereitet worden sind.
Zum 27. Juni übernimmt das Museum für Hamburgische Geschichte nun den
Ausstellungsparcours mit rund 35 exemplarischen Projekten, den das
Hamburger Architekturarchiv gemeinsam mit dem Architekturmuseum der TU
München erarbeitetet hat und der dort bereits auf außergewöhnliches
Publikumsinteresse gestoßen ist. Die Ausstellung rekapituliert die
desaströse Lage nach dem Zweiten Weltkrieg – 1950 wurde ein Fehlbestand auf
6,3 Millionen Wohnungen beziffert –, das Erfolgsmodell Neue Heimat ab
diesem Jahr, seine spätere, fast weltumspannende Tätigkeit quer durch alle
Baugattungen, aber auch den systemischen und korrupten Kontrollverlust des
einst so hoffnungsvoll gestarteten sozialprogrammatischen Baukonsortiums.
## Ambitionierte Sozialbauprogramme
Während heutzutage viele Entscheidungsträger einzig „den Markt“ für
geeignet erachten, den akuten Mangel an Wohnraum zu richten, und die
öffentliche Hand, von Kommunen bis Bund, allenfalls wohlklingende Worte zu
einer „Wohnbau-Offensive“ oder irgendwelchen „Programmen“ verlautbart,
nahmen nach dem Zweiten Weltkrieg neben dem massiv intervenierenden Staat
die Gewerkschaften das Ruder in die Hand. Sie hatten sich während der
Weimarer Republik bereits für diese Aufgabe qualifiziert: Zusammen mit den
Genossenschaften, dem klassischen Selbsthilfemodell Wohnungssuchender aus
dem Geist der 19. Jahrhunderts, beherrschten die 1922 ins Leben gerufenen
gewerkschaftseigenen Baugesellschaften die Umsetzung der ambitionierten
Sozialbauprogramme in Großstädten wie Berlin, Frankfurt oder Hamburg.
Politische Basis war das Gemeinnützigkeitsgesetz, das Bauträgern zwar enge
Grenzen bezüglich Wohnungsgröße, nutznießendem Personenkreis oder Miethöhe
setzte, im Gegenzug aber umfangreiche Steuerbefreiungen und Subventionen
zusicherte. Durch einen hohen Organisationsgrad kontrollierten die
Gewerkschaften zudem ausführende Baubetriebe und erprobten partizipative
Modelle in ihrer Bestandsentwicklung.
## Aktivitäten zur Kapitalbeschaffung
Keimzelle der Neuen Heimat war eine 1926 in Hamburg gegründete
„Kleinwohnungsbaugesellschaft“, deren Vermögen und Besitz von 4.200
Wohnungen 1933 durch das NS-Regime beschlagnahmt wurde und 1939 unter dem
später weitergeführten Namen in der Deutschen Arbeitsfront aufging. 1950
von den Alliierten an den neu gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund
rückübertragen, galten erste Aktivitäten dem Wiederaufbau kriegszerstörten
Bestandes, vorrangig jedoch der Kapitalbeschaffung.
Durch Pfandbriefe und sogenannte „Paragraf-7c-Darlehen“ gemäß der 1954
erlassenen Steuergesetze, die es Unternehmern ermöglichen sollten, ihre
Wirtschaftswunder-Gewinne steuerbegünstigt in den Wohnungsbau zu
investieren, flossen schnell Mittel in einem Maße, das nicht durch
Bautätigkeit aufgebraucht werden konnte. In der Folge erwarben die bald als
„Unternehmensgruppe Neue Heimat“ firmierenden Hamburger Geschäftsleute
weitere gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaften im Bundesgebiet, 1953
etwa den 95-prozentigen Anteil an der Bremer Gewoba. 1960 kontrollierten
sie 27, formal eigenständige, regionale Tochtergesellschaften mit mehr als
1.300 Beschäftigten und einem Wohnungsbestand von 110.000 Einheiten.
Bereits 1966 war die Neue Heimat Europas größter nicht-staatlicher
Wohnungsbaukonzern.
Das bundesweite Baupensum war entsprechend expansiv: Von unter 500
Wohnungen im Jahr 1950 war es auf 14.000 im Jahr 1956 angewachsen, 1960
dann auf knapp 20.000, dem Niveau auch folgender Jahre. Bis 1982, der
Einstellung ihres operativen Geschäfts, hatte die Neue Heimat über 460.000
Wohnungen erstellt, neben Mietwohnungen auch Eigenheime. 270.000 von einst
320.000 Bestandseinheiten gingen zum Ende der 1980er-Jahre, just als der
Wohnungsmarkt wieder auffrischte, aus der Liquidationsmasse auch an
Investoren, besonders im Süden und Westen der Bundesrepublik.
Schnell hatten sich auch Priorität und Maßstab der Bauprojekte verschoben,
vom Aufbau alter Trümmergrundstücke hin zu Planung und Realisierung großer
Ensembles nach modernsten städtebaulichen Erkenntnissen. In Hamburg waren
es Neubau und Flächensanierung wie das Programm „Neu-Altona“, ab 1958 mit
12.000 Wohnungen konzipiert, dem auch 4.000 unzerstörte Vorkriegsbauten
hätten weichen müssen. Bekanntlich blieb es Stückwerk, sehr zum Missfallen
seiner Reißbrettstrategen wie Ernst May, die ihre „Vision einer
atemberaubend modernen Stadt“ ausgeschlagen sahen.
## Rekordverdächtige 10.000 Mietwohnungen
Eine der bekanntesten und größten Realisierungen ist die Neue Vahr in
Bremen, sechs Kilometer nordöstlich der Innenstadt. Rekordverdächtige
10.000 Mietwohnungen und Eigenheime entstanden ab 1957 bis 1962, gegliedert
in fünf organische Nachbarschaften. Architektonische Dominante bildet der
22-Geschosser vom finnischen Architekten Alvar Aalto mit 189
„Junggesellenwohnungen“, eine zeichenhafte Korrektur des im Wohnbau
ansonsten fest zementierten traditionellen Familienbildes. Typologisch
bildet die Neue Vahr den Vorboten der Megastrukturen nach 1960 bis etwa
1975, reine Schlaf-, euphorisch: Entlastungsstädte im ländlichen Umraum wie
die Nordweststadt Frankfurt, Kiel-Mettenhof, Neuperlach bei München und
viele weitere.
Die zunehmende Bedarfsdeckung im Wohnungssektor veranlasste die Neue
Heimat, neuartige Geschäftsfelder zu erschließen. In rasanter Folge wurden
in den 1960er-Jahren auch kommerzielle Tochtergesellschaften gegründet, so
für Städte-, Gewerbe und Industriebau, kommunale Einrichtungen und das
Auslandsgeschäft.
Ein gigantomanischer Auswuchs war etwa das nicht realisierte
„Alsterzentrum“ in Hamburg-St. Georg von 1967, in der Ausstellung als
Modellrekonstruktion zu bestaunen. Ein C-förmiger, 600 Meter langer Schwung
bildete die zehn- bis zwölfgeschossige Basis für fünf bis zu 63-geschossige
Wohnpyramiden: statt mühsamer Altstadtrevitalisierung also lieber ein
komplettes neues Innenstadtviertel mit Versorgung, Freizeit und Wohnen,
„eine Zitadelle städtischen Lebens“ – von Planung bis Bewirtschaftung
komplett aus der Hand der Neuen Heimat!
Einsetzender Kritik, auch an den Großsiedlungen, wurde mit einer
Tochtergesellschaft zur wissenschaftlichen Voruntersuchung und Evaluation
begegnet, prominent begleitet etwa vom Sozialpsychologen Alexander
Mitscherlich, bereits ab 1954 mit einer Firmenzeitschrift und hoher Präsenz
in den öffentlich rechtlichen Medien. So wurde in den 1970er-Jahren stets
umfangreich berichtet, wenn neuerlich ein oft imposant überdimensionierter
Bau einer der Tochtergesellschaften übergeben wurde: das Hamburger
Congress-Centrum CCH, sein internationales Berliner Pendant, das ICC, oder
auch nur die SPD-Parteizentrale in Bonn, das Columbus-Center in
Bremerhaven. 20 historische Filme, oft mit Prominenz aus Politik und
Kultur, spielen bieder-fröhliches Zeitkolorit in die Ausstellung, 14
aktuelle Zeitzeugeninterviews leisten Rückblicke, meist nicht ohne
Sympathie.
Mit ihrem Auslandsgeschäft verließ die Neue Heimat sicheres Terrain. So
rühmlich auch die Pionierleistung war, noch vor der Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zu Israel rund 2.000 Wohnungen in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv
zu errichten, so risikoträchtig waren politische und wirtschaftliche
Rahmenbedingungen in Schwellen- oder Entwicklungsländern.
Letztlich war es aber wohl die Hybris schierer Größe des undurchdringlich
verästelten, sowohl gemeinnützig als auch profitorientiert agierenden,
zudem unterkapitalisierten Firmengeflechts, dessen einzige
Geschäftsstrategie in der konstanten Expansion lag, die zur Insolvenz der
Neuen Heimat führte. Dass sich die Herren Vorstandsmitglieder mit
kriminellen Machenschaften bis in die Niederungen manipulierter
Nebenkostenabrechnungen jahrelang die eigenen Taschen füllten, war ein
schäbiger, umso medienwirksamerer Skandal mit weitreichender Konsequenz:
Ihm fiel das System der Gemeinnützigkeit im Wohnungssektor zum Opfer, 1988
im Zuge einer Steuerreform der christlich-liberalen Bundesregierung.
## Steuerungsinstrument der Sozialpolitik
Die Ausstellung und die sie begleitenden Publikationen bieten nicht nur
einen beeindruckenden sozial- wie baugeschichtlichen Rückblick in die sich
modernisierende alte Bundesrepublik, sie liefern auch Anregungen zu den
aktuellen wohnungspolitischen Grundsatzdebatten. „Utopie“ wäre für dieses
Vermächtnis keineswegs vermessen, als die Neue Heimat und ein
sozialdemokratisches Gesellschaftsverständnis Teile der Daseinsvorsorge, so
das „Lebensmittel“ menschenwürdiges Wohnen, einem ausschließlich
profitoptimierenden Markt entzogen und zum Steuerungsinstrument der
Sozialpolitik machten.
Das ist weit entfernt vom aktivistischen Enteignungspathos, das aktuell
gegen den Wohnungsmangel bemüht wird. Vielmehr handelt es sich um
Konsenskapitalismus systemkonformster Natur. Aber selbst dazu fehlen
heutiger Politik jeglicher Couleur ja ganz offensichtlich Ideen, die über
einen simplen Mietendeckel hinausgehen.
Ausstellung: „Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische Utopie
und ihre Bauten“, 27. Juni bis 6. Oktober 2019, Museum für Hamburgische
Geschichte
Ausstellungskatalog „Die Neue Heimat (1950–1982). Eine sozialdemokratische
Utopie und ihre Bauten“, Herausgeber: Andres Lepik, Hilde Strobl, 236
Seiten mit 235 Abbildungen, 29,90 Euro.
Dokumentation „Neue Heimat. Das Gesicht der Bundesrepublik. Bauten und
Projekte 1947–1985“, Herausgeber: Ullrich Schwarz, Schriftenreihe des
Hamburgischen Architekturarchivs, Bd. 38, 808 Seiten, 960 historische und
Farbabbildungen, 79 Euro
22 Jun 2019
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
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