Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sorge um die Seele
> Neurowissenschaft statt Psychoanalyse? Alain Ehrenbergs neues Buch
> offenbart den gesellschaftlichen Sinn einer Verschiebung und fragt, ob
> der neuronale den sozialen Menschen ersetzen wird
Bild: EEG zur Messung der Hirnaktivität
Von Jakob Hayner
In der Moderne hat sich mit dem Interesse am Ursprung des menschlichen
Geistes auch das an der Beschaffenheit des Gehirns entwickelt. Hegel
spottete einst noch über die Schädelvermesserei seiner Zeit. Doch auch der
Einspruch des Philosophen hat nichts daran ändern können, dass das Wiegen,
Messen und Sezieren des Gehirns in der Folge eher zu- als abnahm. Inklusive
aller Spekulationen, welche Rückschlüsse auf Charakter und Verhalten sich
wohl aus den Formen des durch die Schädelhöhle geschützten Nervengewebes
ergeben könnten.
Lenins Gehirn wurde auf der Suche nach der Genialität des Revolutionärs
noch in 30.000 Scheiben geschnitten. Heute sind solche Methoden freilich
nicht mehr nötig, es stehen verschiedene Arten der Neurobildgebung bereit.
Seit ein paar Jahrzehnten hat sich die kognitive Neurowissenschaft zu einer
der führenden Wissenschaften vom Menschen aufgeschwungen. Der französische
Soziologe Alain Ehrenberg hat nun mit „Die Mechanik der Leidenschaften.
Gehirn, Verhalten, Gesellschaft“ ein Buch veröffentlicht, welches diesen
Aufschwung der Neurowissenschaft untersucht.
Ehrenbergs zeigt zunächst, wie die Neurowissenschaft entstanden ist – und
wie sie eine gesellschaftlich anerkannte moralische Autorität werden
konnte. So gelang es dem Neurologen Oliver Sacks mit den Fallgeschichten im
Band „Eine Anthropologin auf dem Mars“ ein breites Publikum mit den
Annahmen der Neurowissenschaft vertraut zu machen. Und der Neurologe
Antonio Damasio nahm in seinem populären Buch „Descartes’ Irrtum“ den
Bericht von einer verhaltensverändernden Hirnverletzung eines Eisenbahners
im 19. Jahrhundert zum Ausgangspunkt, um seine These von der
entscheidungsfördernden Funktion der Gefühle zu argumentieren.
Die Verbindung von der Beschädigung einer Hirnregion und der Änderung des
Verhaltens ist ein Ausgangspunkt der Neurowissenschaft, deren Aufstieg kaum
von dem des Begriffs des Verhaltens im 20. Jahrhundert zu trennen ist, wie
Ehrenberg zeigt. Nicht jedes Verhalten muss dabei als Pathologie empfunden
oder behandelt werden. Gerade der hoch funktionale Autismus dient als
Beispiel einer neuronalen Störung, die zugleich als Chance begriffen werden
kann – wie auch jüngst wieder das Buch der Familie Thunberg zeigte.
Es existiert inzwischen die gesellschaftliche Notwendigkeit, individuelle
Verantwortung für das eigene Leiden zu übernehmen und Symptome in die
eigene Identität zu integrieren. Selbsthilfe tritt an die Stelle der
Heilung. Ehrenberg zieht auch literarische Arbeiten unter anderem von Siri
Hustvedt heran, um die Verbreitung des „therapeutischen Narrativs“, wie es
die Soziologin Eva Illouz nennt, zu illustrieren.
Auch das eigene Gehirn ist von dem Zwang zur Selbstoptimierung nicht
ausgenommen. Es gilt, verborgene Potenziale zu erkennen und zu nutzen,
unterstützt von Neurofeedback und Neuroenhancement. Denn die
Neurowissenschaft geht inzwischen davon aus, dass das Gehirn keine bloße
Rechenmaschine oder nur ein Reiz-Reaktions-Bündel ist, sondern ein sich
selbst regulierendes und optimierendes System. Das Schlagwort lautet hier
Neuroplastizität.
Ehrenberg zeigt, wie diese Vorstellung vom menschlichen Gehirn zu einer
gesellschaftlichen Praxis führt, die Affekte mittels Übung und
Wiederholungen in nützliche Handlungen zu übersetzen sucht. Die Anfänge
dieses Denkens sieht er schon in dem Pragmatismus der schottischen
Aufklärung angelegt.
In seinem bekannten Buch „Das erschöpfte Selbst“ hatte Ehrenberg gezeigt,
wie sich das Verständnis der Depression in der Moderne gewandelt hat – von
den ödipalen Konflikten hin zu den narzisstischen Störungen, befeuert durch
die pharmakologische Revolution, in deren Folge die Antidepressiva die
Gesprächstherapie ablösten. Auch in „Die Mechanik der Leidenschaften“
kontrastiert er das gegenwärtig dominierende Denken mit dem
psychoanalytischen.
„Während die Psychoanalyse den Menschen an seine Grenzen erinnert, lädt die
Neurowissenschaft ihn dazu ein, sie zu überwinden.“ Ehrenberg macht es
nicht explizit, aber es ist offensichtlich, wie gut das zum Programm des
Neoliberalismus passt. Und so lautet die Kritik des Buchs, dass die
Neurowissenschaft ihren eigenen sozialen Sinn, ihre gesellschaftliche
Funktion nicht verstehen. Ehrenberg schreibt Wissenschaftsgeschichte als
Gesellschaftsgeschichte. Mit „Die Mechanik der Leidenschaften“ zeigt er
abermals, dass er der kritische Historiograf der modernen Sorge um die
Seele ist, als deren Ort zurzeit das Gehirn gilt.
15 Jun 2019
## AUTOREN
Jakob Hayner
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.