# taz.de -- Der Kunst-Lumpensammler | |
> Von Anna Blume bis zur „Ursonate“: Das Sprengel-Museum widmet Kurt | |
> Schwitters zum 100. Geburtstag von dessen dadaistischem „Gesamtweltbild“ | |
> Merz eine umfassende Ausstellung | |
Bild: Widmete sich Formen moderner Werbegestaltung: Die 11. Ausgabe von Schwitt… | |
Von Bettina Maria Brosowsky | |
Die Jubiläen nehmen kein Ende. 100 Jahre Bauhaus, auch im Norden, 25 Jahre | |
Kunstmuseum Wolfsburg, 40 Jahre Sprengel-Museum in Hannover und dort | |
wiederum 100 Jahre Merz, das crossmediale Œuvre „unseres Säulenheiligen“, | |
so Direktor Reinhard Spieler leicht spöttelnd: Kurt Schwitters. | |
„Merz bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der | |
Welt.“ So beschrieb der Hannoveraner Künstler und Bürgerschreck Kurt | |
Schwitters (1887–1948) einst seine ureigenste Ein-Mann-Kunstrichtung, die | |
er nicht nur als ästhetischen Neubeginn nach den Traumata des Ersten | |
Weltkriegs 1919 begründet hatte. | |
Merz leitet sich ab aus dem Ausschnitt einer Anzeige der „Kommerz- und | |
Privatbank“, den Schwitters in einer seiner ersten Collagen verarbeitet | |
hatte, aber auch klangliche Assoziationen an den Frühlingsmonat mitsamt | |
einer Aufbruchstimmung sollen Schwitters umgetrieben haben. Man darf zudem | |
etymologisch schürfen, etwa den Begriff „ausmerzen“ im aktivistischen Sinne | |
eines von Unrat bereinigten, neu zu bestellenden Terrains bemühen. Oder den | |
altertümelnden Topos „Merzler“: der Lumpensammler. | |
Ein künstlerischer Lumpensammler war dann auch Schwitters, der | |
vordergründig wertlose Gegenstände und Druckerzeugnisse wie Eintrittskarten | |
oder Zeitungsannoncen in seine dreidimensionalen Assemblagen einbezog. Für | |
die heutzutage so trendige Kulturtechnik des uminterpretierenden | |
Wiederverwendens hat man ja schnell den Begriff des Upcycling parat, | |
Schwitters aber ging es um philosophische, emanzipatorische Tiefe. Sein | |
radikal subjektiver Zugriff wollte sich von allen Fesseln, | |
Wertvorstellungen und Konventionen befreien, zu dieser Autonomie, einem | |
andere Denken, aber auch jeden anderen Menschen ermuntern: „Merz ist ein | |
Standpunkt, den jeder benutzen kann“. | |
Das Sprengel-Museum hat rund um seine Dauerausstellung zum „Kosmos | |
Schwitters“ mit dem Merzbau im Zentrum in zehn Räumen nun rund 200 | |
multimediale Exponate, zumeist aus dem hauseigenen Schwitters-Archiv, | |
versammelt. Aber auch seine internationalen Weggefährten wie Hans Arp, | |
Hannah Höch, El Lissitzky und die Hannoveranerin Käte Steinitz kommen nicht | |
zu kurz und werden in ihrer Zusammenarbeit mit Schwitters gewürdigt. | |
Thematisch konzentriert sich die Ausstellung auf das textlich-literarische | |
Werk Schwitters’. Anhand seiner Schriftenreihe Merz, dem „Organ“ seiner | |
künstlerischen Bewegung, die Schwitters zwischen 1923 und 1932 im | |
Eigenverlag herausgab, lässt sich sein interdisziplinäres Werk auch in der | |
chronologischen Entwicklung gut nachvollziehen. | |
Von 25 konzipierten Ausgaben konnten immerhin 17 erscheinen, sowohl die | |
Finanzierung als auch die Distribution hatten mit Dauerproblemen zu | |
kämpfen. Im Eingangsraum ist ein Kassenbuch ausgebreitet, es verzeichnet | |
treue AbonnentInnen, aber ebenso, inflationsbedingt, irrwitzige Kosten. Die | |
Auflage hielt sich wohl in überschaubarem Rahmen, Formatwechsel zwischen | |
Oktavheft- und A4-Größe sind sicherlich dieser Situation geschuldet, immer | |
wieder konnten aber auch aufwendige Sondernummern produziert werden. | |
„Dada ist der Stil unserer Zeit, die keinen Stil hat“, schrieb Schwitters | |
in der ersten Merz-Ausgabe vom Januar 1923. Den Dadaisten um Hugo Ball, | |
Emmy Hennings oder Hans Arp, die 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire ihren | |
antikünstlerischen Protest gegen den Irrsinn des Krieges anstimmten, war | |
Schwitters freundschaftlich verbunden. | |
Ihre performative Aktionsform wusste er auch für seine Kunst zu nutzen, | |
etwa in Form einer turbulenten Vortragstournee, die das Publikum mit | |
provokanten Aktionen überraschte. Menschen sollen in Ohnmacht gefallen | |
sein, andere haben die Bühne gestürmt, wenn Schwitters Auszüge aus seiner | |
Textsammlung „An Anna Blume“ rezitierte oder einfach losbellte. | |
Die Formsprache der Schwitters’schen Merzkunst und auch der Publikation | |
verschob sich jedoch schnell in Richtung eines konstruktivistischen | |
internationalen Stils. Die Typografie, der Schwitters Kunstwert beimaß, | |
reduzierte sich auf einen serifenfreien Futura-Satz. Merz 3 erschien als | |
erste Grafikmappe, eine ungebundene Sonderedition mit Lithografien: „auf | |
den Stein gemerzt“, so Schwitters’Diktion. | |
Merz 5, noch 1923 herausgegeben, versammelte dann „7 Arpaden“, humorvoll | |
organische Grafiken von Hans Arp, die Kleinauflage betrug lediglich 50 | |
Stück. Die Doppelnummer Merz 8+9 „Nasci“ entstand 1924 als Kooperation mit | |
El Lissitzky, sie widmete sich Phänomenen der Natur in der Kunst, Merz 11, | |
von den Pelikanwerken finanziert, Formen moderner Werbegestaltung, einem | |
wirtschaftlichen Standbein Schwitters’. | |
Merz 13 war eine Grammophonplatte zur Frühform der „Ursonate“ beigeben, | |
neben seinem 1923 begonnenen Merzbau im eigenen Wohnhaus das von Schwitters | |
selbst so bezeichnete Lebenswerk. Die immer wieder überarbeitete und | |
perfektionierte phonetische Dichtung erschien in Merz 21 als Text und | |
beschloss in einer typografischen Gestaltung des Bauhäuslers Jan Tschichold | |
als Merz 24 dann 1932 die Publikationsreihe. | |
In der Ausstellung sind noch viele weitere Verästelungen des | |
Schwitters-Werks zu entdecken, so zur formal auf stereometrische | |
Grundkörper reduzierten „Normalbühne Merz“, die Schwitters ab 1924 auf | |
internationalen Ausstellungen neuer Theatertechnik in Wien, Paris und New | |
York zeigte. Oder seine Auseinandersetzung gleichermaßen mit Kindermärchen | |
wie auch moderner Architektur, von Bauhausgründer Walter Gropius oder dem | |
radikalen Neuerer Otto Haesler in Celle. | |
In analogen Zeiten gelang Schwitters’publizistischer Umtriebigkeit ein | |
Netzwerk globaler Dimension: Er bewarb 38 internationale | |
Avantgarde-Zeitschriften, konnte im Gegenzug dort Aufmerksamkeit für Merz | |
und seine Kunst generieren. | |
70 Jahre nach Schwitters’Tod erlischt nun der Schutz gemäß deutschen | |
Urhebergesetzes, sein Werk wird gemeinfrei. Das Hannoveraner | |
Schwitters-Archiv stellt derzeit seine Bestände online, arbeitet aber auch | |
an einer auf neun Bände angelegten wissenschaftlich kommentierten Edition | |
aller Texte. | |
So ist die aktuelle Merzschau auch die „Ausstellung zum Buch“, dem gerade | |
erschienenen, 952 Seiten starken Band 4, „Die Reihe Merz 1923–1932“, wie … | |
die Leiterin des Schwitters-Archivs, Isabel Schulz, leicht augenzwinkernd | |
anmerkt. | |
„100 Jahre Merz. Kurt Schwitters. Crossmedia“: bis 6. Oktober, Hannover, | |
Sprengel-Museum Hannover | |
www.schwitters.digital.de | |
7 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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