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# taz.de -- Heroin im südosttürkischen Diyarbakır: Ein Gramm Heroin für 120…
> Seit den Straßengefechten zwischen Militär und kurdischer Stadtguerilla
> in Diyarbakır 2015 und 2016 breitet sich der Drogenverkauf und -konsum
> aus.
Bild: Die türkische Gendarmerie zerstört 2013 tausende Marihuana-Pflanzen in …
Eine Gruppe von Frauen, die in den engen Straßen von Diyarbakırs Altstadt
Sur unterwegs ist, betritt den Innenhof eines der jahrhundertealten
Steinhäuser, um sich hier ein wenig auszuruhen. In der Küche des Hauses
füllt ein Mann mit tätowierten, zittrigen Händen eilig ein paar Gläser mit
einem aus frischen Kräutern zubereiteten Erfrischungsgetränk und reicht sie
den Frauen. Dem Mann fehlen einige Zähne, sein Blick ist auf die Kundinnen
gerichtet. „Und, schmeckt es gut?“, fragt er sie.
Ab und zu arbeitet der heroinabhängige Hȇvȋ* in diesem Café in Sur und
bereitet Erfrischungsgetränke zu. Heute wird er damit 20 Lira, umgerechnet
etwa 3 Euro, verdienen. Davon werde er sich Heroin kaufen und es rauchen,
sagt er. Aktuell kostet ein Gramm Heroin in Diyarbakır etwa 120 Lira,
umgerechnet 17,60 Euro. Verglichen mit anderen türkischen Städten ist das
erstaunlich günstig.
Hȇvȋ wohnt mit seiner Tante in einem steinernen Haus mit alten Jalousien
gleich neben dem Café, in dem er die Erfrischungsgetränke serviert. Es ist
das Haus, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist. Hier hat er mit 13
Jahren seinen ersten Rausch ausgeschlafen, nachdem er zum ersten Mal Gras
geraucht hatte. Von diesem Tag an hat er regelmäßig Haschisch und viele
andere Drogen konsumiert. Mit Heroin hat er erst vor sieben Jahren
angefangen. Jetzt ist er 42 Jahre alt und kann nicht still sitzen. Beine
und Kopf bewegen sich ständig unbeabsichtigt.
## „Diese Leere würde mich dazu bringen wieder anzufangen“
Hȇvȋ hat an der Universität Philosophie studiert. Eigentlich würde er gerne
noch seinen Master machen. Wenn er eine richtige Arbeit fände, könnte er
das dafür nötige Geld verdienen. Allerdings ist da noch das Verfahren gegen
ihn, bei dem ihm 12 Jahre Gefängnis drohen, was ihm große Sorgen bereitet.
„Ich hatte damals einen Drogenfreund. Wenn er keine Drogen bekam, hat er
mir Geld gegeben und ich habe ihm dafür etwas besorgt, aber in den Augen
des Türkischen Gesetzbuches sind wir Dealer. Die Strafen dafür sind extrem
hoch“, erzählt er. „In dem Gerichtsverfahren geht es um 10 Gramm
Rauschgift, mein Freund ist für 22 Jahre und ich bin für 12 Jahre
verurteilt worden.“ Die Akte liege gerade beim Obersten Gerichtshof. Hȇvȋ
hat erst 18 Monate seiner Strafe abgesessen. Wenn das Urteil bestätigt
wird, muss er den Rest noch verbüßen.
Die schwerste Phase seiner Sucht habe er während seiner Haftstrafe
überwunden, im Knast sei er clean geworden, erzählt er. Heute konsumiert
Hȇvȋ zwar weniger Heroin als früher, bezeichnet sich aber immer noch als
abhängig. Manchmal hat er einen Job, manchmal nicht. Nachdem er aus dem
Gefängnis entlassen worden war, hielt er sich zunächst fern von der
Drogenszene in Diyarbakır, dann habe er sich aber schnell einsam gefühlt.
„Die Straßenkämpfe in der Stadt, die abgebrochenen Beziehungen zu meiner
Familie – das alles hat mich dazu verleitet, wieder mit den Drogen
anzufangen. Auch durch meine Arbeitslosigkeit bin ich in ein Loch gefallen.
Selbst wenn ich in ein Therapiezentrum gehen würde, diese Leere würde mich
dazu bringen, wieder anzufangen“, sagt er.
Hȇvȋ ist der Meinung, dass die Strafen nicht greifen. Im Grunde genommen
werde der Drogenhandel vom System geduldet. In seinem Stadtviertel Sur sei
auf der Straße schon immer Haschisch verkauft worden. Nach den schweren
Gefechten zwischen den türkischen Sicherheitskräften und militanten
PKK-Anhängern in Diyarbakır in den Jahren 2015 und 2016 seien dann noch
weitere Drogen hinzugekommen.
## Nach den Straßenkämpfen breitete sich das Heroin aus
Vor den Straßenkämpfen haben sich junge Anhänger der kurdischen
Stadtguerilla YDG-H, einer Jugendbewegung der PKK, zusammengetan und
Razzien an den einschlägigen Orten durchgeführt, an denen Drogen konsumiert
und verkauft wurden. Das sorgte allgemein für Abschreckung, der Handel
wurde deutlich beeinträchtigt. Aber diese Razzien dauerten nicht lange an,
danach begannen die Gefechte in der Stadt.
Die kriegsähnlichen Zustände, die gleich danach einsetzende Binnenmigration
und fehlende Kontrolle haben dazu beigetragen, dass sich der Heroinkonsum
ausbreiten konnte. Der relativ geringe Preis von Heroin hat dafür gesorgt,
dass es in kurzer Zeit immer mehr Dealer und immer mehr Konsumenten gab.
Laut Hȇvȋ hat sich das Problem der Heroinsucht in der Stadt inzwischen zu
einem regelrechten Massenphänomen entwickelt.
Der Sozialarbeiter Mustafa Altıntop glaubt, dass der Staat die Augen vor
dem Heroinhandel zu niedrigen Preisen verschließt und so zulässt, dass sich
der Handel in Diyarbakır ausbreitet.
## Das Gefühl, das Leben hänge am seidenen Faden
Laut Altıntop gehören auch die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit der
Kinder und Jugendlichen, die Zeugen der Straßenkämpfe in Sur geworden sind,
zu den Gründen für den steigenden Drogenkonsum in der Stadt. Weitere
Faktoren seien der sogenannte städtische Umbau, in dessen Namen alte
Siedlungen abgerissen und riesige auf dem Reißbrett entworfene
Neubausiedlungen hochgezogen wurden, und die dadurch resultierende
Zerstörung von über Jahrzehnte gewachsenen Nachbarschaften in den
Stadtvierteln.
„Das, was diese Kinder damals durchgemacht haben, ist nichts, womit man
alleine klarkommen kann“, sagt Altıntop. „Die Jugendlichen erleben, dass es
egal ist, ob sie studieren, weil sie trotzdem einfach entlassen werden
können. Dass es egal ist, wie sehr sie sich im Leben anstrengen, weil es
sein kann, dass man ihr Haus einfach abreißt, oder plötzlich ein Krieg
ausbricht. Ständig haben sie das Gefühl, ihr Leben hänge an einem seidenen
Faden.“
In der Kreisstadt Cizre in der südostanatolischen Provinz Şırnak, in der
ebenfalls schwere Gefechte stattfanden, sei die Anzahl der Drogenabhängigen
aus ähnlichen Gründen ähnlich hoch, erzählt Altıntop weiter.
Der Sozialarbeiter hat 2016 eine Studie zum Drogenkonsum von Jugendlichen
zwischen 18 und 24 Jahren veröffentlicht. Die Studie zeige, wie wenig
effektiv die bestehenden Therapiezentren sind. „In diesen Therapiezentren
werden Ersatzmedikamente für die Drogen ausgehändigt, aber ein rein
medizinisches Modell löst noch lange nicht das Problem. Die
Drogenabhängigkeit ist auch ein soziales Problem“, sagt Altıntop.
„Präventivmaßnahmen spielen hier eine ganz wichtige Rolle, aber das
sozialpolitische System der Türkei ist nicht in der Lage, funktionierende
Maßnahmen in diesem Bereich zu etablieren.“ Statt lokal an die vor Ort
herrschenden Bedingungen angepasste Angebote zu erarbeiten, würden die
Maßnahmen zentral von der Regierung umgesetzt.
## In Diyarbakır leben 14.000 Drogenabhängige
Auch Hȇvȋ beschäftigt, dass es keinen speziellen Ansatz für seine
Heimatstadt gibt. Er ist der Ansicht, dass ehemalige Drogenabhängige als
treibende Kraft eingesetzt werden müssten, um andere Drogenabhängige dazu
zu bringen, in die Therapiezentren zu kommen. Er glaubt nicht, dass es den
Experten allein gelingen wird, das Problem in den Griff zu bekommen.
Tatsächlich wurde diese Idee in Diyarbakır früher schon einmal umgesetzt.
Das 2014 von der Kommunalverwaltung Diyarbakır gegründete Beratungs- und
Unterstützungszentrum für Drogenabhängige Hevra hatte eine
Selbsthilfegruppe für „Anonyme Drogenabhängige“ ins Leben gerufen. Einer
der Gründer dieser Gruppe, der Sozialarbeiter Ümit Çetiner, sagt, dort
hätten sich die clean gewordenen Mitglieder gegenseitig motiviert, nicht
rückfällig zu werden. Die Gruppe sei damals sehr erfolgreich gewesen.
Außerdem wurde 2014 in Kooperation öffentlicher Einrichtungen und der
Zivilgesellschaft eine „Plattform für den Kampf gegen Drogenabhängigkeit“
gegründet.
Diese Plattform und das Beratungszentrum Hevra wurden jedoch 2016 mit
Einrichtung der Zwangsverwaltung in Diyarbakır auf Eis gelegt. Ein Großteil
der in diesen Organisationen Beschäftigten verlor seine Arbeit. Auch
Çetiner, der in der Geburts- und Kinderklinik Diyarbakır gearbeitet hatte,
wurde per Notstandsdekret entlassen. Laut der letzten Statistik von Hevra
aus dem Jahr 2015 leben in der Eineinhalb-Millionen-Metropole Diyarbakır
14.000 Drogenabhängige. Seither wird keine Statistik mehr geführt.
Heute gibt es in ganz Diyarbakır kein einziges Zentrum, das sich
ganzheitlich mit der Drogen- und insbesondere der Heroinsucht
auseinandersetzt. Es wird den Betroffenen entweder eine medizinische
Therapie oder psychologische Beratung angeboten. Einzelne Angebote wie
diese können die Probleme nicht lösen, weil sie keine Therapie mit
Unterbringung in einer Klinik beinhalten.
## Die nächste Klinik ist 150 Kilometer entfernt
Aktuell werden in der Stadt Pläne diskutiert, Anlaufstellen zu eröffnen,
die ambulante Therapien oder psychologische Unterstützung für
Drogenabhängige anbieten. Diese sollen in die Struktur von bestehenden
Krankenhäusern und zivilen Gesellschaftsorganisationen eingebunden werden
und Therapie, Beratung und Reha-Maßnahmen anbieten. Menschen ohne
Sozialversicherung wie Hȇvȋ könnten diese Leistungen allerdings nicht in
Anspruch nehmen.
Die Entzugsklinik Amatem (dt.: Therapie- und Forschungszentrum für Alkohol-
und Drogenabhängige, Anm.d.Red.) für erwachsene Suchtpatienten hat bisher
keine Zweigstelle in Diyarbakır. Als die Organisation Hevra noch arbeiten
konnte, übernahm sie die Kosten für diejenigen, die keine finanziellen
Mittel hatten und schickte sie in die nächste Amatem-Klinik im 150
Kilometer entfernten Elazıǧ. Doch jetzt ist auch das nicht mehr möglich.
Um dem wachsenden Bedarf an Unterbringungen in einer Entzugsklinik gerecht
zu werden, wurde mit dem Bau einer Amatem-Klinik in Diyarbakır begonnen.
Dieser ruht jedoch derzeit, weil das Gesundheitsministerium finanzielle
Schwierigkeiten hat. Abgesehen davon, meint Sozialarbeiter Altıntop, müsste
jedoch das Gesundheitsministerium gemeinsam mit dem Ministerium für
Familie, Arbeit und soziale Dienstleistungen ein multidisziplinäres Team
bilden und mit einem ganzheitlichen Ansatz an die Sache herangehen, um das
Drogenproblem der Stadt wirklich in den Griff zu bekommen.
Der Besitzer eines in einer Seitenstraße neu eröffneten Lokals betritt das
Café, in dem Hȇvȋ arbeitet. „Ich habe gehört, du suchst noch Mitarbeiter.
Ich würde gerne meinen Lebenslauf vorbeibringen. Würdest du mich
einstellen?“, ruft Hȇvȋ ihm mit hoffnungsvollem Blick zu. „Klar, bring ihn
vorbei“, antwortet der Cafébesitzer im Vorbeigehen und setzt sich an einen
freien Tisch. Hȇvȋ starrt auf seine eigenen Hände und öffnet die
Handflächen. Er schaut auf die Vogelflügel und das Kreuz auf seinem linken
Handrücken und lächelt.
* Name auf Wunsch des Protagonisten geändert. Der echte Name ist der
Redaktion bekannt. Hȇvȋ ist Kurdisch und bedeutet Hoffnung.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
29 May 2019
## AUTOREN
Figen Güneş
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