# taz.de -- Das Magma der Erde | |
> Wut vor dem Ausbruch: Lia Rodrigues, eine der zentralen Akteurinnen des | |
> zeitgenössischen Tanzes in Brasilien, schafft im HAU eine eindrucksvolle | |
> Parabel auf die aktuelle (brasilianische) Lage | |
Bild: Szene aus „Wut/Fúria“ von Lia Rodrigues | |
Von Astrid Kaminski | |
Die Zone, in der zwischen Weltall und Erdinnerem Leben möglich ist, sei, | |
kosmisch gesehen, nur sehr klein, so zitierte der Berliner | |
Lecture-Performer Peter Pleyer am vergangenen Wochenende den Soziologen | |
Bruno Latour. Dieser schmale Streifen Leben könnte der Horizont sein, an | |
dem Pleyers brasilianische Kollegin Lia Rodrigues ihr neues Tanzstück | |
„Fúria/Wut“ im HAU 2 vorüberziehen ließ. Ein Horizont mit friesartigen | |
Wolkenbändern, die sich nicht entladen. Vielleicht weil es zu gefährlich | |
wäre. Weil die Erde einem solchen Gewitter nicht standhalten würde. Ein | |
Horizont mit einer Spielart von Leben, die über den Rand der Welt gestürzt | |
werden muss. Oder sich wie Wolken verwandeln, ineinander verschmelzen, neu | |
formen. | |
Mit einem Schmelztiegel fängt „Fúria“ an. Eine rote Textilmasse auf | |
spärlich beleuchteter Bühne wabert wie halb erstarrte Lava vor sich hin. | |
Kegelförmig wird eine Stoffbahn nach oben gezogen, Streben verleihen ihr | |
Ähnlichkeit mit einer übergroßen Kasperle-Steckenfigur. Übervatermäßig gi… | |
sie Körper frei, die sich im Zeitlupentempo zu Szenen ordnen. Eine | |
greisenhafte Figur stochert in etwas – einem Leichenhaufen? –, eine andere | |
bewimpelt den Akt mit einer Flagge. Zauberer und Verirrte, die aus einer | |
Hölle Hieronymus Boschs stammen könnten, nehmen Gestalt an. Dann setzt der | |
Sound ein. Ein vielbeiniges Traben, dazu Motivationsrufe: anfeuernd, | |
treibend, peitschend – die Programmnotiz verweist auf traditionelle Lieder | |
und Tänze der Kanak-Stämme. | |
Spätestens jetzt erwarte ich, dass sich die Wut entlädt. „Fúria“ wird im | |
Kontext des Minifestivals „Die Entstehung eines neuen Widerstands“ gezeigt, | |
mit dem das HAU Positionen zur politischen Lage in Brasilien präsentiert. | |
Ladung liegt also genug in der Luft. Aber Lia Rodrigues lässt nichts | |
explodieren. Ihre Choreografie ist ein Gemälde auf Distanz. Szene an Szene | |
setzt sie Variationen des Immergleichen: Herr und Knecht, Erhabene und | |
Gebeutelte. Wie sie das im Ensemble mit neun Tänzer*innen macht, ist | |
faszinierend. Jede neue Szene besitzt eine solch starke Bildkraft, dass | |
sich jedes Mal wieder das Auge an ihr festbeißt und sie ordnen will. Diesem | |
Verlangen wird sukzessive nachgegeben. Da reiten mythologische Wesen auf | |
fantastischen Menschentieren. Kniend oder stehend auf einem Zwei- oder | |
Vierbeiner, als Wagenlenker oder aufgebahrt, garniert mit archaisch | |
wirkenden Roben, die sich nach oben turbanartig auftürmen oder wie | |
Schleppen und Reifröcke nach unten fallen. Als stammten sie aus einer | |
Sphäre, in der Mythologisches in die Prinzipien von höfischem | |
Gottesgnadentum gegossen wird. | |
Wie antike Friese sehen diese Mensch-Tier-Karawanen hoch ästhetisch aus. | |
Aber die Welt, die einst in Stein gemeißelt wurde, ist so harmonisch in | |
ihrem Bildaufbau wie schauerlich in ihrem Narrativ. Selbst Gemartelte fügen | |
sich, wenn sie kopfüber oder in rautenähnlicher Aufhängung wie | |
Upside-down-Buddhas mitgeschleift werden, scheinbar harmonisch ins Bild. | |
Als müsste es genau so sein, als sei das die Ordnung der Dinge auf dem | |
schmalen Streifen irdischen Lebens. Als sei sie das Magma der Erde. | |
Ab und zu aber wechselt Rodrigues die Ebenen, geht aus dem Zeitlupenlauf | |
der Geschichte über in eine Echtzeit, in der bunte, bis auf partyhafte | |
Accessoires wie Bikinis, Halskrausen und Gefiederröcke nackte Körper in | |
Shakes versetzt werden, Ritualtanz- mit Show-Vokabular mischen, | |
Energetisierendes mit Masturbations-, Verzweiflungs- und Gewaltexzessen. | |
Hier kann das Ensemble erst recht zeigen, wozu es fähig ist. Der Höhepunkt | |
des tänzerischen Könnens ist eine Flamingo-Chorusline mit einbeinig | |
groovenden Hüftknicks und -kicks, die statisch eigentlich unmöglich sein | |
dürften. Sind diese Acts die Drogen der Unterdrückten? Was passiert, wenn | |
die Wut aus diesen Körpern ausbricht? | |
Lia Rodrigues, die auch bei den morgen beginnenden Tanztagen Potsdam mit | |
einer Neufassung ihres reduzierten Stücks „formas breves“ von 2002 zu sehen | |
sein wird, ist nicht nur die derzeit wohl international beliebteste | |
brasilianische Choreografin. Sie hat schon immer Ernst gemacht mit der | |
Hinterfragung ihrer Privilegien als weiße Brasilianerin und ihr Studio und | |
ein Theater- und Tanzzentrum in der Maré, einer der größten Favelas des | |
Landes, aufgebaut. Auch bei dem im Anschluss an „Fúria“ stattfindenden | |
Podiumsgespräch mit Vertreter*innen der POC- und LGBTI*-Communitys | |
statuiert sie wieder ein Exempel und bietet den Tänzer*innen ihren Stuhl. | |
Mit der Folge, dass sich alle Diskutanten auf den Boden setzen, während sie | |
am Beispiel Brasilien und dem Festhalten an unrechtmäßigen Privilegien von | |
selbst erklärten Eliten das Ende der Welt voraussagen. | |
„formas breves“, 15./16. Mai, Tanztage Potsdam | |
13 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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