# taz.de -- Dossier Flughafen Istanbul: Die Stadt schluckt die Dörfer | |
> Mit dem neuen Flughafen wächst Istanbul. Die Menschen in den umliegenden | |
> Dörfern müssen sich auf steigende Immobilienpreise und den Verlust des | |
> Dorflebens einstellen. | |
Bild: Die Straßenhunde wurden immer weiter vertrieben, je mehr die Stadt wuchs | |
Auf der Autobahn zum neuen Flughafen von Istanbul glänzt frischer Asphalt, | |
neue Verkehrsschilder wurden aufgestellt. Sie führt vorbei an kahlrasierten | |
Hügeln und ausgehöhlten Felsen. Die Pfeiler einer Überführung stehen wie | |
nackte Beine in einer leeren Umgebung. Der neue Flughafen von Istanbul | |
erstreckt sich vor uns bis jenseits des Horizonts. 81 Prozent der Baufläche | |
waren Waldgebiet, auf 9 Prozent gab es Gewässer und 3 Prozent waren | |
Weideland. Jetzt ist alles mit Beton überzogen. Nur auf dem Mittelstreifen | |
der Zufahrtsstraße wurden junge Pinienbäume gepflanzt. | |
Der Flughafen wird ambitioniert als der größte der Welt bezeichnet. Bei der | |
feierlichen Eröffnung nannte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ihn gar | |
ein „Siegesdenkmal“. Er ist eines jener Mega-Bauprojekte der AKP, an denen | |
viel von ihrer politischen und ökonomischen Zukunft, aber auch von ihrem | |
Ansehen hängt: die dritte Bosporusbrücke, die Nord-Marmara-Autobahn, der | |
künstliche Kanal Istanbul und besagter dritter Flughafen. | |
In der Umgebung des Flughafens gibt es Dörfer, auf deren Dorfplätzen noch | |
Atatürk-Büsten mit dem Zitat „Der Bauer ist der Herr der Nation“ stehen. | |
Dabei wurde 2014 gesetzlich beschlossen, dass all diese Dörfer nun den | |
Status eingemeindeter Vororte der Metropole verliehen bekommen – eine | |
Zukunft hat das dörfliche, bäuerliche Leben hier ohnehin nicht. | |
Das Dorf Yassıören hat ein Kaffeehaus und eine Bäckerei. Dafür gibt es zehn | |
Maklerbüros. Die Quadratmeterpreise sind von 50 auf 500 Lira hochgeschnellt | |
und man spricht darüber, dass bis zu 2.000 Lira drin wären. Und darüber, | |
dass überall Hochhäuser gebaut werden sollen. Wann immer man mit jemandem | |
spricht, donnert ein Lastwagen voller Aushub vorbei und unterbricht die | |
Unterhaltung. Doch wenn man die Menschen darauf anspricht, sagen sie nur: | |
„Das ist doch noch gar nichts.“ Jemand erzählt, wenn er im Kaffeehaus | |
sitze, zähle er 14 Lastwagen pro Minute. | |
## „Es ist alles super, das neue Projekt der AKP!“ | |
Der Dorfvorsteher Abdülkadir Atay erzählt, dass seit den neunziger Jahren | |
immer mehr Bauernfamilien ihre Grundstücke aufgegeben haben und der Ort | |
seine Zukunft darin sieht, ein Teil des neuen Istanbul zu werden. Doch bis | |
heute sagen diejenigen, die in der Innenstadt zu tun haben, dass sie „nach | |
Istanbul“ fahren. Denn die Stadt war und ist weit. Atay selbst hat noch | |
Tiere, auch wenn er sie nicht mehr frei laufen lässt, weil es hier ja kein | |
Weideland mehr gibt. Büffel hat hier niemand mehr, denn die brauchen | |
feuchte Gebiete. Traurig ist Atay darüber, dass er das Dorf seiner Kindheit | |
verliert. Aber er ist stolz darauf, dass seine dreieinhalbjährigen | |
Zwillingstöchter in einer Stadt aufwachsen werden. Er nennt beide Emotionen | |
in einem einzigen Satz. Man trifft hier viele Menschen, die ambivalent | |
fühlen. | |
Die vielen Hunde, die nicht nur über die Dorfstraßen laufen, sondern auch | |
über die Autobahn, tragen Knöpfe im Ohr. Ein Hinweis darauf, dass sie | |
geimpft sind. Daran erkennt man auch, dass es Straßenhunde sind, die | |
verschiedene Istanbuler Bezirksämter in der Stadt eingesammelt und hier | |
ausgesetzt haben. Sie wurden immer weiter vertrieben, je mehr die Stadt | |
wuchs und in der Natur, die eigentlich nur noch aus Lastwagen und Baggern | |
besteht, wurden sie vor Hunger aggressiv. | |
Vom Flughafen fahren wir in den Norden – dorthin, wo der Flughafen die | |
Küste des Schwarzen Meeres berührt. Bis vor Kurzem lag hier in | |
unmittelbarer Nähe der Kulakçayır-See inmitten eines Waldes voller Eichen, | |
Erlen und Erdbeersträuchern. Auf dem Hügel, über den wir schreiten, könnte | |
demnächst der Garten einer Villa oder ein schickes Restaurant stehen. Aus | |
der Ferne wirken die Lastwagen wie arbeitsame Insekten. An der Küste ist | |
das Wasser so trüb, dass man keine Fische darin fangen kann. | |
Hier steht das Haus von Güven Aydoğan, der sagt: „Es ist alles super, das | |
neue Projekt der AKP!“ An seinem Gesichtsausdruck kann man nicht ablesen, | |
ob er es sarkastisch oder ernst meint. Es könnte auch die vorsichtige | |
Erwägung sein, dass man einer Journalistin eben genau das sagen muss. „Das | |
ökologische Gleichgewicht ist ein anderes Thema“, fügt er dann hinzu und | |
beschwert sich, dass es keine Flächen mehr gibt, auf denen seine Hühner | |
Auslauf haben können. Aydoğan stammt aus Yeniköy, das später einmal | |
zwischen dem Kanal Istanbul und dem Flughafen liegen wird. Das neue | |
Istanbul wird das alte Yeniköy schlucken. | |
## Mit jeder Brücke wuchs die Stadt um ein Drittel | |
Im Dorf Durusu betreibt Suzan Taşlıtepe ein Lokal, das um die Mittagszeit | |
brechend voll ist. Eine Gruppe von Vorarbeitern der Baustelle ist da. | |
Taşlıtepe scherzt mit den Männern, die gelbe Warnwesten tragen: „Schaut, | |
was die in ihren gelben Westen in Paris alles anstellen. Versucht das mal | |
hier und wir schauen, was euch passiert“, sagt sie lachend. Die Vorarbeiter | |
aus umliegenden Dörfern haben tatsächlich den Protest Tausender | |
Flughafen-Arbeiter unterstützt. Die Arbeiter protestierten gegen schlechte | |
Arbeitsbedingungen und Bettwanzen in den Baracken. Die Polizei setzte | |
Tränengas ein, auch die Vorarbeiter bekamen es ab. „Früher gab es hier viel | |
Kleinvieh, heute gibt es nur noch Minivieh, nämlich Bettwanzen“, witzelt | |
einer. In der Leichtigkeit der Mittagspause ziehen ihre ernsten Erlebnisse | |
über den Tisch wie Wolken über einen Tag: Mal verdunkelt es sich, dann wird | |
es wieder heller. | |
Aslı Odman ist Augenzeugin jeder Etappe des dramatischen Wandels der | |
Gegend. Sie ist Dozentin für Stadt- und Raumplanung an der Istanbuler Mimar | |
Sinan-Universität. Mit dem Bau der ersten Bosporusbrücke 1973 ist die alte | |
Stadt um ein Drittel gewachsen, mit dem Bau der zweiten Bosporusbrücke 1986 | |
um ein weiteres Drittel. „Das letzte Drittel ist entscheidender als es | |
mathematisch erscheint, denn die letzten Wälder der Stadt werden | |
vernichtet“, erklärt Odman. „Das Ganze nimmt apokalyptische Dimensionen | |
an.“ Wenn auch noch der Kanal Istanbul gebaut wird, stehe das Millionen | |
Jahre alte Gleichgewicht der Marmara-Region auf dem Spiel. „Niemand kann | |
voraussehen, was geschehen wird“, sagt Odman. „Aber der Nordwind wird durch | |
die Stadt aufgehalten. Das Wassersystem, das die Innenstadt versorgt, wird | |
zerstört. Es könnte zu Erdrutschen und Erdbeben kommen.“ | |
Uğur Erat, ein Makler aus Durusu, erzählt, dass jetzt nicht mehr so viele | |
neue Flächen bebaut würden, aber viele ihre Grundstücke verkauften. Er | |
beschwert sich darüber, dass sich auf einmal alle als Makler versuchen. | |
Erat hat auch eigene Grundstücke. Während unseres Gesprächs brennen ihm die | |
Augen. Das sei seit einer Weile so. Auf die Frage, ob das vom Baustaub | |
komme, reagiert er erstaunt, als komme ihm zum ersten Mal in den Sinn, dass | |
das damit zusammenhängen könnte. Dann erzählt er, dass er vor lauter Staub | |
seinen Balkon gar nicht mehr reinige. Seine Mutter hat Krebs im Endstadium | |
und seit Monaten die Wohnung nicht mehr verlassen, weil der Staub sie | |
belastet. | |
## Ein Siegesdenkmal der Eroberer | |
Obwohl das Dorf Ağaçlı, in dem Cenk Çalışır lebt, 19 Kilometer vom | |
Flughafen entfernt liegt, wurden die umliegenden Wälder abgeholzt. Çalışır | |
engagiert sich bei der Umweltschutzorganisation Verteidigung der | |
Nordwälder, die nach den Gezi-Protesten entstanden ist und seit fünf Jahren | |
gegen die Megaprojekte der Regierung kämpft. An sein Dorf grenzen ein | |
Steinbruch und mehrere Sprengstoffdepots. Die Grundstücke des Dorfes wurden | |
verstaatlicht. Hier soll die staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKI ihre | |
mehrstöckigen Häuser hinsetzen. | |
Weniger als die Hälfte der Dorfbewohner*innen hat Individualklage erhoben. | |
„Wir haben den Prozess alle verloren“, sagt Çalışır wütend. Fünf Fami… | |
haben Einzelfallbeschwerden beim Straßburger Menschenrechtsgerichtshof | |
eingereicht. Er ist auch wütend auf die anderen Dorfbewohner*innen, die die | |
Klagenden mit dem Rechtsstreit allein ließen. Erst hätten sie sich so | |
aufgeführt, als hätten sie im Lotto gewonnen und als sie dann merkten, was | |
geschah, nur gesagt: „Das geschieht sicher hinter Erdoğans Rücken“. Seit | |
Beginn der Baumaßnahmen habe die Erkenntnis, dass das Recht auf Seiten der | |
Regierung und des Kapitals stehe, bei vielen Menschen eine tiefe | |
Hilflosigkeit hinterlassen. | |
Der Soziologe Jean-François Pérouse, der sich mit dem Stadtwandel in | |
Istanbul beschäftigt, ist der Auffassung, dass die Planer ihren Erfolg | |
anhand von zwei Kriterien definieren: daran, wie groß die Projekte sind und | |
wie schnell sie fertiggestellt werden können. Eine wahnwitzige Vorstellung | |
urbaner Expansion habe diese Erfolgsmaßstäbe seit 2012 in die Höhe | |
getrieben. Istanbul werde zu einer internationalen Marke, die im | |
Schaufenster der Politik ausgestellt werden soll. Menschen, Umwelt und | |
kulturelle Ressourcen würden bedenkenlos geopfert, es entstehe eine Stadt | |
ohne Identität, ohne Gedächtnis und ohne lokale Eigenheit, so Pérouse. „Es | |
geht um eine kriegerische Herausforderung, eine neue Ausdrucksform der | |
osmanischen Eroberermentalität. Die Ressourcen werden verödet und die klare | |
Erwartung ist, dass das niemand in Frage stellt“, sagt er. „In den | |
betroffenen Dörfern empfinden manche Menschen gleichzeitig Stolz und ein | |
unbestimmtes Gefühl von Verlust, in das sie sich flüchten.“ | |
Pérouse’ Hinweis auf die osmanischen Eroberer kommt nicht von ungefähr. | |
Vergangenes Jahr hat das Konsortium IGA den Jahrestag der Eroberung | |
Istanbuls im Jahr 1453 mit 1.453 Lastwagen voller Aushub gefeiert, die es | |
durch den Wald schickte, den einst Sultan Mehmed „der Eroberer“ zu Rosse | |
durchritt. Der Unterschied zu den Zeiten des Sultans: Dieser Wald ist nicht | |
mehr da. Es war eine Eroberung, die sich gegen die Fundamente der Natur | |
richtete und nicht nur Insekten und Vögeln ihr Habitat raubte, sondern auch | |
Menschen ihren Willen und ihr Wohlergehen. In der Tat: Der neue Flughafen | |
von Istanbul ist ein Siegesdenkmal der Eroberer. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
Dieser Text ist Teil des multimedialen Dossiers zum Flughafen Istanbul. Mit | |
Grafiken, Videos, Reportagen und Interviews beleuchtet taz gazete die | |
Folgen des Megaprojekts für Menschen, Umwelt und Wirtschaft. Lesen Sie mehr | |
unter [1][taz.de/flughafen-istanbul] | |
15 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Pınar Öğünç | |
## TAGS | |
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