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# taz.de -- Du darfst dir nicht die kleinste Schwäche leisten
> Sergey Dvortsevoy ist Russlands Ausnahmefilmemacher. In “Ayka“ treibt er
> seine Hauptfigur in eine moderne Odyssee durch die eiskalten Straßen
> Moskaus
Bild: Samal Yeslyamova als Ayka. Für diese Rolle wurde sie in Cannes völlig z…
Von Barbara Wurm
Eine junge Frau schält sich aus dem Krankenhausbett, lässt – erst unsicher,
dann ziemlich entschlossen – ihr Neugeborenes zurück und flieht durch ein
mit letzter Kraft eingeschlagenes Toilettenfenster auf die eiskalten
Straßen Moskaus. Von da an ist Ayka vor allem wieder eines: Getriebene. Als
wäre die Entbindung nur ein unwillkommenes Zwischenereignis – in einem
Alltag, der keine Gnade kennt und für nichts Zeit lässt, keine Sekunde.
Schon gar nicht für ein Leben mit Kind. Denn die einzige Bestimmung dieses
Daseins – das erzählt Sergey Dvortsevoys aktueller Spielfilm „Ayka“
detailgetreu wie ein psycho-physio-soziologisches Dokument des
Migrantin-Seins – ist der verzweifelte und weitgehend vergebliche Versuch,
zu Geld zu kommen.
So hastet Ayka durch den Großstadtmoloch, und das fernab des Roten Platzes,
an seinen normalerweise im Verborgenen bleibenden Peripherien. Sie jobbt,
was das Zeug hält, überbrüht Hühner, rupft sie, wäscht sie, verpackt sie.
Die automatisierten Bewegungen, die sie im Kreis überraschend
hochmotivierter Frauen im engen, dunklen Keller ausführt, sind
schweißtreibend. Bei der Arbeit mutieren die Frauen, allesamt
„Gastarbejtery“, wie es im Russischen (der lingua franca des
postsowjetischen Einflussbereiches) heißt, zum Fließband. Die meisten von
ihnen sind Kirgisinnen, auf den Lohn warten sie vergeblich. Der Chef steckt
das Geld selbst ein – was sind ihm schon eine Horde ausgebeuteter Frauen,
die alles geben und dabei so ermüden, dass sie den Mund zur
Minimalbeschwerde eh nicht mehr aufkriegen.
Ihm nachzulaufen ist sogar Ayka, diesem sanft anmutenden Energiebündel,
unmöglich. Nur wir wissen (nicht aber ihre weiblichen Kolleginnen und
männlichen Arbeitgeber), dass sie gerade erst aus der Geburtsklinik kommt.
Ihr Unterleib zickt und blutet, die Brüste entzünden sich, im Dauerkontrast
von Kälte draußen und Hitze drinnen steigt die Körpertemperatur, schwillt
selbst dieses zarte Wesen förmlich an. Maßnahmen zur Abhilfe, in diesem
Fall kühlende Eiszapfen, sind selbsterfunden. Das alles: unter der Jacke,
auf improvisierten Klos, im hintersten Winkel, versteckt. Denn auch nur die
kleinste Schwäche nähme ihr jede Chance auf einen Job, den sie – wir
erfahren es erst mit der Zeit – dringend braucht, um ihren Leihgebern das
in den Sand gesetzte Startkapital für einen erträumten, eigenen Nähbetrieb
zurückzugeben. So sucht sie Arbeit, egal welche: erbittet sie, erzwingt
sie, erbetet sie.
Diesen Not-Furor, diese moderne Odyssee als Non-Stop-Raserei zwischen den
Schneemassen auf den weitläufigen Verkehrsstraßen und dem
klaustrophobischen minimal program, das ihre Behausung darstellt (auf
engsten Raum sind die Landsleute in diesen neoliberalen
Nächtigungs-Kommunalkas zusammengepfercht), fangen die vom Regie-Zentrum
Sergey Dvortsevoys aus gesteuerten Kameras gnadenlos nahe ein. Von Zumutung
für den Zuschauer zu sprechen wäre aber zynisch, angesichts der Tatsache,
dass dieses Leben „ganz unten“ für Millionen Menschen täglich Realität i…
Von Aykas moralischem Dilemma ganz zu schweigen. Denn nicht nur ihr Körper
erinnert sie pausenlos an die verleugnete Mutterschaft: Als sie für eine
Landsmännin mit krankem Kind als Putzfrau beim Veterinär einspringt, muss
sie bei einer OP an einer Hündin assistieren, an deren Zitzen viel kleiner,
süßer, weicher Nachwuchs saugt. Spätestens in dieser Szene wird „Ayka“ zu
einem Film der Sonderklasse, der auch die am weitesten entfernten Sprossen
der gesellschaftlichen Vertikale in der Formel des Lebens zusammenführt.
Während sie dem Arzt dabei hilft, das Überleben der Hündin zu sichern, geht
ihr eigenes zur Neige.
Laute Empörung, brüllender Protest bleiben aber aus. In Sergey Dvortsevoys
Kino-Sensualismus ist hierfür kein Platz. Umso stärker macht sich (und das
bei uns allen) ein innerer Aufschrei bemerkbar. Ein, so möchte man hier
sagen dürfen, tiefer Schmerz. Es ist die Stärke dieses russischen, in
Kasachstan aufgewachsenen Ausnahmefilmemachers, der in den neunziger Jahren
als vorderster Dokumentarist galt („Chlebnyj den“ – „Brottag“, 1998),…
jedoch aus ethischen Überlegungen in Richtung Spielfilm wechselte, dass er
die Unmoral des Systems nicht aus der Perspektive der Anklagebank
formuliert.
„Ayka“ ist dennoch nicht nur ein präzises Innenporträt eines zu Härte und
Kälte getriebenen Menschen (den die phänomenale Samal Yeslyamova, dafür in
Cannes mit dem Preis als beste Darstellerin ausgezeichnet, in aller
physiologischen Glaubwürdigkeit erzeugt), sondern auch ein Film über einen
Aspekt postsowjetischer Realität, in der das widerlich reiche Moskau in
jenen Niederungen zur Ansicht kommt, die diesen Reichtum tragen (wie Karl
Schlögel sagen würde). Bis Ayka endlich weint (und wir mit ihr), vergehen
111 Minuten einer nachgerade unvorstellbaren „Normalität“.
„Ayka“. Regie: Sergey Dvortsevoy. Mit Samal Yeslyamova, Aleksandr
Zlatopolskiy u. a. Russland/Deutschland/Polen/Kasachstan/China 2018, 111
Min.
20 Apr 2019
## AUTOREN
Barbara Wurm
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